1313 - Der falsche Engel
fest, weil ich die Verbindung nicht abreißen lassen wollte.
Als mir der Begriff in den Sinn kam, hielt ich den Atem an. Ich stand und spürte trotzdem den Schwindel, der mich erfasst hatte.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Das musste dieser Staub sein.
Der Staub der Engel. Etwas Wunderbares auf der einen Seite, aber etwas Tödliches auf der anderen.
Ich zog mein Kreuz vom Körper zurück und trat auch etwas von der schwebenden Leiche weg. So bekam ich einen besseren Blick auf den Körper, der noch immer nicht zu Boden fiel und dafür von den Auflöseerscheinungen erfasst wurde.
Der Hals, die Brust, die Schultern, die Arme bis hin zu den Händen – jede Festigkeit verschwand. Es gab weder Haut noch Knochen. Es existierte nur dieser Staub, und der behielt die Form eines Menschen bei. Die zittrige Gestalt schwebte nach wie vor in Bauchhöhe, und die Verwandlung schritt fort.
Sekunden später bestand Harriet Peel nur noch aus glitzerndem und funkelndem Engelsstaub. Unzählige Partikel blitzten und leuchteten. Da kam mir beinahe der Vergleich mit einer Wunderkerze in den Sinn, nur war hier nichts zu hören.
Im Mund und auch in den Augen hatten sich die Partikel ausgebreitet. Der Körper war auch innen davon erfasst worden, sodass nicht nur die Haut betroffen war.
Ja, das musste Engelsstaub sein. Ich wusste noch keine andere Lösung. Meine Sinne waren gespannt. Ich hielt das Kreuz nach wie vor fest. Mir kam der Gedanke, dass Harriet Peel ein falscher Engel gewesen sein musste. Bei einem normalen wäre dies nicht passiert, denn die Engel standen für das Kreuz und nicht dagegen.
Ich konnte nicht sagen, wie lange die Gestalt in der Luft schwebend vor mir gelegen hatte. Irgendwann war Schluss, da hielt sie nichts mehr zusammen. Und so wurden Lorna und ich Zeuge des endgültigen Todes dieser noch so jungen Frau.
Ohne dass es einen Hinweis auf das Folgende gegeben hätte, fiel die Gestalt von einem Augenblick zum anderen zusammen. Noch einmal leuchtete jedes noch so winzige Körnchen, dann war es vorbei.
Der Engelsstaub rieselte zu Boden. Wir hörten nichts. Alles geschah lautlos, und ebenso lautlos trafen die unzähligen winzigen Teilchen auf dem Boden auf. Dort leuchteten sie nicht mehr weiter, sondern verglühten. Was zurückblieb, waren die Kleidung und auch die roten Schaftstiefel. Auch die Blutlache war nicht verschwunden.
Erst jetzt löste sich meine Spannung. Ich konnte wieder normal durchatmen. Dann schaute ich auf mein Kreuz, das die Verantwortung übernommen hatte. Ich steckte es weg, und ich drehte mich langsam um, weil ich Lorna anschauen wollte.
Sie war ebenfalls eine Zeugin gewesen. Und es war ihre Schwester, die sich aufgelöst hatte. Ich wusste, dass in ihrem Innern etwas zerbrochen war. Eine Szene wie diese konnte kein Mensch auf der Welt so locker hinnehmen.
Lorna sah auf den Boden. Ihren Rücken hielt sie noch gegen die Wand gedrückt. Sie jammerte leise vor sich hin, war aber nicht in der Lage, etwas zu sagen. Der Schock saß zu tief, und ich sah auch, dass sie zitterte. Wahrscheinlich fror sie, was bestimmt nicht an der Kälte lag, sondern an den Umständen.
»Lorna…«
Sie hatte mich gehört und schrak zusammen.
Ich berührte sie an der Schulter und wollte ihr Trost zusprechen so gut ich konnte, in diesem Fall war es jedoch nicht nötig. Zumindest jetzt nicht, denn sie sprach von allein.
»Ist es vorbei?«
»Ja.«
Ich bekam mit, dass sie ihre Augen öffnete. Gleichzeitig hob sie auch den Kopf an. Sie schaute automatisch dorthin, wo die Kleidung am Boden lag. Dabei drang ein Laut aus ihrer Kehle, der ein Lachen, aber auch ein Schluchzen hätte sein können.
Ich spürte, dass ich Lorna in Ruhe lassen musste. Sie brauchte Zeit, um sich an die schreckliche Wahrheit zu gewöhnen. Zu meinem Erstaunen hielt sie sich sehr tapfer. Sie schrie nicht auf, sie drehte nicht durch und hielt ihren Blick auf die zusammengesackten Kleidungsstücke gerichtet.
Dann begann sie zu sprechen. »Ich hatte mal eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Wir haben uns nicht nur gemocht, wir haben uns geliebt. Wir waren als Kinder immer zusammen und untrennbar. Wir taten alles gemeinsam, aber jetzt ist es vorbei. Meine Schwester ist tot, sie ist irgendwo, ich kann nur für ihre Seele beten und mich daran erinnern, dass ich sie oft genug gewarnt habe, nicht den Weg zu gehen, den sie eingeschlagen hat. Sie war nicht zu belehren. Sie hat es einfach getan, weil die Freunde der Engel sie so fasziniert haben.
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