1315 - Das Lied von Blut und Tod
Vampir bekommen, aber nur Mike war gebissen worden…
***
Vanessa wusste nicht, was sie unternehmen sollte. So tat sie erst einmal nichts. Sie stand noch immer so starr und gab sich voll und ganz ihren Gedanken hin.
Es war kein Spiel mehr. Es war blutiger Ernst. An der linken Halsseite war die Haut aufgerissen. Zwei Zähne hatten sich dort ziemlich tief in die Haut und das Fleisch gebohrt, wobei auch eine Ader getroffen worden war.
Aus ihr war das Blut herausgesaugt worden!
Von wem?
Der Gedanke wollte sie einfach nicht loslassen.
Vanessa wunderte sich über sich selbst. Dass sie es noch schaffte, neben dem Sarg stehen zu bleiben und auch mit der Kerze in ihn hineinzuleuchten. Aber sie sah, dass ihre Hand zitterte. Durch die Schräge löste sich heißer und flüssiger Wachs. In Tropfen fiel er nach unten und klatschte auf Mikes Stirn.
Er merkte nichts.
Vanessa wollte es jetzt noch genauer wissen. Sie bemühte sich, tiefer in den Sarg zu leuchten, denn sie dachte daran, dass man einen Vampir an den Zähnen erkannte. Diese Hauer waren sein markantes Markenzeichen. Genau sie suchte Vanessa.
Sein Mund stand halb offen. Da sie von oben herabschaute, waren die Zähne noch nicht zu sehen. Sie wollte auch nicht weiter nachforschen, denn ihr war ein weiteres Detail aufgefallen, das ebenfalls mehr als wichtig war.
Er atmete nicht!
Bei Mona, seiner Schwester, war das anders gewesen. Bei ihm jedoch nicht. Kein Luftholen, kein Luftausstoßen. Brauchte sie noch mehr Beweise? Nein, bestimmt nicht.
Plötzlich glaubte sie, einen Kloß in der Kehle zu haben, und ihr wurde klar, dass sie sich in Gefahr befand. Wenn der Vampir erwachte, dann spürte er den Drang nach Blut. Dann wollte er saugen und trinken, und in ihr würde er ein ideales Opfer finden.
Für die junge Frau gab es nur eine Möglichkeit. Sie musste so schnell wie möglich weg.
Den Halter mit der Kerze darin warf sie zu Boden. Dann nahm sie ihre Geige und den Bogen auf, klemmte beides unter ihren linken Arm und lief zur Tür. Ihre Hand lag schon auf dem Griff, aber sie zog die Tür noch nicht auf, weil ihr eine Idee durch den Kopf gezuckt war.
Mona war keine Blutsaugerin. Wenn Mike als Vampir erwachte, brauchte er Blut, und das würde er sich von Mona holen. Also musste sie geweckt und gewarnt werden.
Vanessa schaffte es nicht mehr, den guten Vorsatz in die Tat umzusetzen, denn sie wurde durch etwas abgelenkt, das ihr in dieser Lage Angst einflößte.
Das Geräusch drang aus Mikes Sarg!
Da vermischte sich einiges miteinander. Keuchen, Röcheln und auch Knurren. Die schlimmen Laute hinterließen bei Vanessa eine Gänsehaut. Wenn Mike jetzt als Vampir aus dem Sarg stieg, war sie verloren. Er brauchte sie nur zu sehen und wusste, dass sich in ihrem Körper das befand, was ihn am Leben hielt.
Bisher hatte sie alles, was mit ihr und der Gruppe geschah, als einen makabren Spaß wahrgenommen. Okay, sie waren jung, sie suchten die Abwechslung, aber nicht alle waren so wie die Geschwister oder ein paar wenige andere, die wirklich scharf auf menschliches Blut waren, auch wenn sie nicht als Untote durch die Gegend geisterten. Es hatte einige Überfälle gegeben, es waren auch Menschen verletzt worden, es war zu Anzeigen gekommen, doch Vanessas Meinung nach hielt sich das alles noch in bestimmten Grenzen.
Nicht jedoch das Erwachen eines echten Blutsaugers!
Sie fühlte sich von einem Eisschauer umklammert. Der Gedanke daran, Mona aus dem Sarg zu holen, kam ihr nicht mehr. In ihr steckte eine so wahnsinnige Furcht, dass sie einfach nur an sich selbst denken konnte und an sonst nichts.
Das Geräusch war verstummt.
Stille…
Vanessa wartete auf eine Wiederholung und atmete auf, als diese nicht eintrat. Dafür passierte etwas anderes. Und wieder war es der Vampir, der sich aus seinem Sarg meldete. Nur nicht mehr mit Keuchen und Stöhnen, jetzt drangen hässliche Schmatzgeräusche an ihre Ohren.
Für Vanessa gab es nicht den geringsten Grund, noch länger in der Kapelle zu verweilen. Sie drückte endlich die gebogene Klinke nach unten und zerrte so schnell wie möglich die Tür auf.
Endlich freie Bahn!
Vanessa stürzte nach draußen. Hier konnte sie tief Luft holen. Sie saugte den Geschmack von Freiheit tief ein. Die Augen hielt sie weit geöffnet.
In der Dunkelheit rannte sie los, so durcheinander, dass sie die Richtung nicht fand. Sie wusste beim besten Willen nicht, wohin ihre Beine sie trugen.
Trotz der Angst hatte sie ihr Instrument nicht losgelassen. Geige
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