1315 - Das Lied von Blut und Tod
Parallelogramm. Allerdings wurde die Öffnung nicht viel größer.
Sie unternahm einen anderen Versuch. Einfach den Deckel weiter schieben, dem Fußende entgegen und ihn zuvor wieder richten. So konnte er wie auf einer Schiene gleiten. Sie durfte ihn nur nicht zu weit nach vorn bringen, damit er nicht das Übergewicht bekam, zu Boden fiel und in zahlreiche Teile zersprang.
Jedes Schaben und Kratzen klang wie die schönste Musik in ihren Ohren. Über ihrem Gesicht verbreiterte sich tatsächlich die Öffnung. Jetzt sickerte auch mehr Licht zu ihr hinein, obwohl dabei die Schatten schon überwogen.
Sie schaffte es!
Zunächst blieb sie in ihrem makabren Bett liegen. Sie hörte sich selbst zischen und stoßweise atmen. Ruhig werden. Nichts überstürzen. Sie hatte Zeit.
Der Blick auf die Uhr!
Die dritte Morgenstunde war bereits angebrochen. Von den Geschwistern hörte sie nichts. Sie schliefen und schienen nicht die Probleme zu haben, mit denen sich Vanessa herumschlagen musste.
Eine Minute ließ sie sich Zeit. Der Rücken schmerzte schon, als sie sich aufrichtete, langsam wie eine Greisin, das Gesicht verzogen.
Sollte sie noch mal in einem Sarg schlafen, dann nicht ohne weiche Unterlage, das schwor sie sich.
Das Herausklettern war kein Problem. Dennoch bemühte Vanessa sich, leise zu sein. Sie griff noch einmal in den Sarg hinein, um die Geige und den Bogen herauszunehmen.
Jetzt war alles okay!
Stille umgab sie. Nur noch wenige Kerzen brannten. Die anderen waren zu deformierten Wachsklumpen geworden, die sich wie harter Teig auf dem Steinboden ausgebreitet hatten und dort festklebten.
Vanessa schüttelte den Kopf. Irgendetwas störte sie an der Stille.
Sie kam ihr verändert vor, anders als die Stille vor dem Einschlafen.
Dichter?
Nein, anders. Etwas schwebte in ihr. Es war zu spüren. Leider nicht zu erklären. Sie fühlte eine Botschaft, die sie betraf und drehte sich auf der Stelle.
So sehr sie die Umgebung auch absuchte, es gab keine äußerliche Veränderung, die Misstrauen hätte in ihr hochsteigen lassen können. Und doch achtete sie auf ihre Stimme.
Vanessa ging zu dem Sarg hin, in dem Mona die Stunden der Nacht verbringen wollte. Beim Gehen raschelte der Stoff des langen Rocks. Als bleiche Totengestalt schlich sie auf den Sarg zu, blieb an seinem Kopfende stehen und schaute hinein.
Ja, da lag sie.
Mona schlief. Es ging ihr auch im Schlaf wohl gut, denn ihre Gesichtszüge sahen sehr entspannt aus. Das war selbst im schwachen Schein der restlichen Kerzen zu sehen.
Vanessa wollte die Freundin nicht wecken. Aber sie musste sich etwas einfallen lassen, was ihre eigene Person anging. Und das war nicht leicht. Es würde den beiden sicherlich sauer aufstoßen, wenn sie sich einfach aus dem Staub machte. Deshalb wollte sie jemanden wecken und entschied sich für Mike Delano.
Sie ging zu dem großen Sarg. Um in ihn hineinzuschauen, musste sich Vanessa schon etwas recken und den Kopf dann beugen. Auch in Höhe seines Gesichts stand der Deckel so weit offen, dass er genügend Luft bekam. Nur schaffte das Licht nicht mehr die Helligkeit, die sie von ihrem und Monas Sarg gewohnt war.
Der erste Blick brachte sie nicht viel weiter. Sie sah das Gesicht, es wirkte auch heller als die übrige Umgebung, doch die Schatten überwogen bei ihm schon.
Vanessa wollte mehr erkennen, und da gab es nur eine Möglichkeit. Licht! Es brannten noch genügend Kerzen. Eine davon zog sie heran, und zwar mit ihrem Ständer. Am Ende der noch fingerhohen Kerze hatte sich ein kleiner Berg aus kaltem Wachs gebildet. So würde die Kerze nicht vom Ständer abfallen, wenn Vanessa sie kippte.
Sie brachte das Licht über die Öffnung. Dabei stellte sie sich auf die Zehenspitzen und kippte die Kerze, damit mehr Licht in den Sarg fallen konnte.
Allmählich sah sie das Gesicht deutlicher. Reflexe tanzten in den blonden Haaren, aber die interessierten Vanessa nicht. Ihr Herz schlug plötzlich schneller. Was sie sah, konnte sie im Anfang nicht glauben. Der Mund des jungen Mannes stand offen.
In seiner Nähe sah sie das Blut und die beiden Bissstellen nicht.
Die entdeckte sie an der linken Halsseite, und jetzt hatte sie den Eindruck, zu einer Salzsäule geworden zu sein.
Das war… das war … nicht möglich!
Bisswunden und Blut.
Es gab nur eine Erklärung. Mike hatte Besuch bekommen. Es war genau das eingetreten, was sich Vanessa vorgestellt hatte. Die Ahnung war zur Gewissheit geworden.
Sie alle hier hatten Besuch von einem echten
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