132 - Entführt!
solltest wirklich nicht so viel darauf geben, was die anderen über dich denken«, entgegnete die Barbarin.
»Wenn ich das täte, wären wir nicht hier.« Mit einem Seufzen wiederholte er sein Klopfen, diesmal lauter und ohne sich zu ducken.
»Was willst du, Shachar?«, fragte eine Stimme. »Dich selbst davon überzeugen, ob die Gerüchte stimmen?« Die Tür war nicht geöffnet worden. Ein Zwerg mit strähnigen graubraunen Haaren trat seitlich an der Hütte vorbei und ging gemächlichen Schrittes auf sie zu.
»Wer redet von Gerüchten, Saad?«, konterte Shachar mit einer Gegenfrage. »Die Tatsachen sprechen für sich.«
»Tatsachen sind nicht immer so eindeutig, wie sie zu sein scheinen.« Ein stechender Blick traf Aruula. Der Mann, der in den Augen seiner Genossen eine unverständliche und verachtenswerte Tat begangen hatte, musterte sie und wandte sich dann wieder Shachar zu. »Willst du mich deiner Begleiterin nicht vorstellen, wie es sich geziemt?«
»Abn el Saad Ben Gadiir«, intonierte Shachar und wies danach auf seine Begleiterin. »Das ist Aruula von den dreizehn Inseln. Sie ist Gast hier im Dorf.«
»Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen«, sagte Aruula. »Shachar hat mir einen großen Dienst erwiesen, indem er mich zu dir führte.«
»Das habe ich in der Tat«, meinte der Zwerg und trat von einem Bein aufs andere. »Und jetzt werde ich von hier verschwinden, ehe die ganze Siedlung davon weiß, dass ich Abn el Saad Ben Gadiir, das Opfer wilder Gerüchte, der dennoch gegen alle Regeln gehandelt hat, aufgesucht habe.«
Nachdem er verschwunden war, sagte Saad: »Er wird den Gerüchten noch einige hinzufügen. Er ist ein Schwätzer. Ich wundere mich, dass er dir geholfen hat. Seit jedermann zu wissen glaubt, dass ich die schwangere Faathme verstoßen habe, bin ich für die meisten hier im Dorf ein Aussätziger.«
Bitterkeit sprach aus seinen Worten.
»Du hast sie also nicht verstoßen?«
»Natürlich nicht!« Saad begann unruhig auf und ab zu trippeln. Er hob seine Hände und murmelte Worte vor sich hin, die Aruula nicht wirklich verstand.
»Ich bin auf der Suche nach der Wahrheit.«
Aruulas Einwurf beendete Saads Bewegungsdrang. »Was willst du wissen? Warum interessiert dich, was ich getan habe oder nicht?«
»Ich habe meine Gründe«, sagte sie und hoffte dabei, dass der Umweg über Saad sie tatsächlich zu Honeybutt führen würde. Oder verrannte sie sich hier in etwas, das ihr nicht weiterhalf, während ihre Freundin draußen in der Wildnis vor die Lupas ging?
»Ich dachte auch nicht, dass du grundlos hier wärst. Aber die Wahrheit will ich dir gerne erzählen, denn ihrer schäme ich mich nicht.« Wieder hob Saad die Hände, doch diesmal war es eine theatralische Geste. »So höre denn, unbekannte Aruula, was in Wirklichkeit geschehen ist!«
Er sprach wie ein Legendenerzähler, der auf einem Marktplatz eine Schar Zuhörer um sich versammelte und für klingende Münze von einer unerhörten Begebenheit berichtete.
»Dass ich mich von Faathme el Sabn Chat Ischtaa getrennt hätte, obwohl sie ein Kind unter dem Herzen trägt, ist eine unverschämte Lüge!«
»Dann müsste Faathme also nur deine Worte bestätigen und alles wäre geklärt«, sagte Aruula verwundert. »Wo liegt das Problem?«
»Sie ist verschwunden! Sonst hätte sie genau das längst getan.« Saad rümpfte seine wulstige Nase. »Und hier beginnen meine Probleme, meine wirklichen Probleme, die weit über das hinaus gehen, was Lüge und Intrige bewirken können. Faathme hat mir mein ungeborenes Kind geraubt!«
***
»Sie raubte dein ungeborenes Kind?«, echote Aruula verständnislos. »Soweit ich weiß, tragen die Frauen Kinder aus und die Männer sind nur bei deren Zeugung… behilflich.«
»Es ist noch in ihrem Leib, deshalb gehört es ihr noch, doch sobald es geboren ist, wird es mir gehören!«, entgegnete Saad.
»Aber Faathme ist geflohen, weil sie das Baby für sich behalten will! Das ist… undenkbar und gegen jede Tradition! Und deshalb nehmen die Anderen an, ich hätte sie verstoßen.«
Aruula hatte sich längst abgewöhnt, die Sitten und Gebräuche anderer Völker in Frage zu stellen. Aber dieser Brauch verblüffte sie doch. Und sie konnte nicht behaupten, dass er ihr gefiel. Die Neugeborenen den Müttern wegzunehmen, um sie den Vätern zu überlassen, widersprach ihrem Bild von einer intakten Familie. Bei Gurks Volk hingegen schien diese Sitte eine große Bedeutung zu haben, und dagegen zu verstoßen kam
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