1322 - Das Grauen von St. Severin
rudernd bewegte.
Überall lauerten seine Feinde. Es waren nicht nur die beiden Verfolger, selbst die Natur stellte sich gegen ihn. Wenn er zu dicht an die Sträucher geriet, schlugen sie zu. Die Zweige und die klebrigen Blätter peitschten in sein Gesicht. Manche hakten sich auch mit kleinen Stacheln fest, so dass er sich losreißen musste.
Claasen schwamm in einem ihm unbekannten Meer. Er kannte sich nicht mehr aus. Die Beine bewegten sich automatisch. Er spürte die Schmerzen in der Brust, als wollten sie alles in ihr sprengen.
So riesig war der Friedhof nicht. Man konnte ihn als überschaubar bezeichnen, aber dem Flüchtling kam er vor wie ein gewaltiges Areal, das zwar einen Anfang hatte, aber kein Ende. So kam er sich vor wie eine Totenseele, die sich auf dem Gelände verirrt hatte, weil sie den Weg zurück ins Grab nicht mehr fand.
Er wusste auch nicht, ob er im Kreis lief. Er stolperte über die Kantsteine an den Seiten der Gräber. Er lief auch über sie hinweg und prallte gegen Grabsteine, die sich in unterschiedlichen Höhen zeigten. Er wusste, dass ihm die beiden Verfolger auf den Fersen waren, dass sie sich gegenseitig verständigten, doch er war nicht in der Lage, sie zu hören. In seinen Ohren klangen andere Laute nach.
Der Kopf war vollgestopft, die sich anbahnende Erschöpfung sorgte darfür, dass er den Überblick verlor.
Claas Claasen glich mehr einem gehetzten Wild, das sich eine freie Bahn brach. Egal wie, er musste weg.
Und dann passierte es. Alles lief so schnell ab, dass er nicht wusste, was mit ihm geschah. Jedenfalls trat er ins Leere und hatte für einen Moment den Eindruck, fliegen zu können.
Er flog nicht, er sackte weg – und schlug auf!
Es war Claasens Glück, dass er mit beiden Beinen zuerst den Boden berührte und dass das Loch auch nicht zu tief war. Der Aufprall erschütterte ihn trotzdem und eine fremde Kraft sorgte dafür, dass sein Körper nach vorn geschleudert wurde.
So prallte er mit dem Kopf gegen eine feste, aber auch leicht schmutzige Wand. Da blitzten vor seinen Augen die berühmten hellen Sterne und dann war Claas Claasen nicht mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Er brach in die Knie und hatte das Gefühl, dass ihm die Beine weggetreten worden waren.
Schwindel erfasste ihn. Er drehte sich wie eine Spirale durch seinen Kopf. Dass er auf feuchtem Boden lag, merkte er viel später. Da war es ihm erst gelungen, richtig zu denken.
Er stöhnte, fühlte feuchten Dreck unter sich, sah hoch über sich den dunklen Himmel, dessen Gestirne ihm so verwaschen vorkamen und konnte nach rechts und links hin nichts sehen.
Da wurde ihm der Blick genommen. Er schaute jedes Mal gegen eine Wand. Direkt in seiner Nähe.
Nähe?
In seinem Kopf fing es an zu arbeiten. Er drängte die Panik zur Seite. Allmählich breitete sich das Verstehen, Erkennen und auch das Wissen aus.
Er wusste plötzlich, wo er lag.
In einem offenen Grab!
***
Dieses Wissen gab ihm einen weiteren Schock. In einem Grab zu liegen, sei es nun offen oder zugeschüttet, das war der Albtraum der meisten Menschen. Ein Grab war so schrecklich endgültig.
Er hatte den Berg aus Erde nebem dem Grab nicht gesehen, ging aber davon aus, dass er existierte. In seiner Vorstellung tauchten Kohl und Becker auf, die grinsend in das Grab hineinschauten, dann nach bereit liegenden Schaufeln griffen, sie in den Erdhaufen stießen und die Erde Kilo für Kilo nach unten auf die lebendige Person kippten.
Ein Trauma, eine wahnsinnige Angst. Ein Gefühl, das Claas seinem ärgsten Feind nicht wünschte. Ihn überkam das Bedürfnis, seine Angst einfach hinauszuschreien, um andere Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Aber wer hätte ihm helfen können?
Nur ein John Sinclair. Mit ihm hatte er es sich durch seine Reaktion verdorben.
Die Angst griff wie mit Krallenhänden in sein Inneres hinein. Das Grab war nicht unendlich tief. Er brauchte sich nur zu erheben, die Arme auszustrecken und rauszuklettern.
Ganz einfach, ganz leicht…
Nur fehlte ihm die Kraft.
Er blieb liegen. Er war fertig. Er konnte sich nicht bewegen. Er kam nicht hoch.
Gewaltige und unsichtbare Panzerplatten lagen auf seiner Brust und drückten ihn nieder. Claas hatte sich über sein Ende nie Gedanken gemacht, dazu war er noch zu jung.
Jetzt aber kamen die Gedanken. Und er dachte zudem an seine Familie. An die Frau, an die drei Kinder, an das Hotel und auch seinen Vater, von dem er es übernommen hatte.
Schreckliche Szenen entstanden. Er
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