1330 - Die Kopfgeldjägerin
einer kühleren Strömung abgelöst worden, und es hatte sogar geregnet, was viele Menschen kaum noch für möglich gehalten hätten.
Wenn jetzt noch ein kühler Wind geweht hätte, wäre das Wetter perfekt gewesen. Leider tat der Wind uns den Gefallen nicht. Auch die Temperaturen waren nicht unbedingt sehr tief gefallen. Über der Stadt lag die Schwüle noch immer wie eine Glocke.
Vor dem Friedhof fand ich einen Parkplatz und stieg aus. Es regnete im Moment nicht. Ich hoffte, dass es in der nächsten Stunde so bleiben würde. Aber die Luft war gesättigt. Aus dem Boden krochen Schwaden, die sich zwischen den Gräbern und Pflanzen sowie den niedrigen Bäumen verteilten.
Das alte Tor ließ sich leicht aufschieben. Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich in meinem Leben schon Friedhöfe betreten habe, mehr dienstlich als privat natürlich, doch als ich diesen hier betrat, überkam mich das gleiche Gefühl wie auf dem Friedhof von Lauder, wo meine Eltern ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Lady Sarah Goldwyn hatte mir viel bedeutet, und ich spürte, dass sich die Umgebung meines Herzens zusammenzog, als ich an sie dachte und daran, wie grausam sie gestorben war. Immer wieder hatte sie sich ihrem Schicksal entgegenstemmen können, aber der Schwarze Tod und seine Vasallen waren letztendlich stärker gewesen.
Sicherlich gab es Menschen, die diesen alten Friedhof nicht allein betreten hätten. Er lag noch in Mayfair, aber das war für den Grabbesucher und Spaziergänger nicht zu merken. Das Feld mit den alten und verwitterten Grabsteinen hätte auch auf dem Lande liegen können, so still war es in dieser Umgebung.
Es gab flache hochliegende Grabsteine, die beschriftet waren und aussahen wie breite Bänke. Der Zahn der Zeit hatte an ihnen genagt, und er hatte auch das Moos mitgebracht, das sich zwischen die Ritzen und Spalten gedrückt hatte wie grüne Knete.
Normale Wege gab es nur selten. Die alten Grabsteine standen dort, wo Rasen oder Wiese gewachsen war. Höhere Grabsteine sah ich selten, und wenn, dann hatten sie ihre Generationen auf dem Buckel.
Ich bewegte mich auf den neuen Teil des Friedhofs zu, denn dort fand ich das Grab meiner alten Freundin Lady Sarah. Es war das frischeste auf dem Friedhof. Es hatte zudem einer Sondergenehmigung bedurft, dass Lady Sarah überhaupt hier begraben werden konnte. Sie hatte sich den Friedhof schon zu Lebzeiten ausgesucht und wollte dort an dieser Stelle liegen, die praktisch in einer Ecke lag.
Mit langsamen Schritten ging ich hin und blieb vor dem Grab stehen. Der Hügel war verschwunden. Die Kränze und Blumengebinde von der Beerdigung ebenfalls. Man hatte es geplättet. Am Kopfteil steckte ein Kreuz mit ihrem Namen im Boden.
Trotzdem gab es Blumen. Sie schauten aus schmalen Vasen hervor, die in der Erde steckten. Ich wusste, wer die Blumen gebracht hatte. Jane Collins, Glenda Perkins, vielleicht auch Shao, denn eines stand fest. Lady Sarah war sehr beliebt gewesen, und wir hatten tief um sie getrauert. Aber das Leben ging weiter. Es war für uns nach der Rückkehr des Schwarzen Tods nicht ungefährlicher geworden.
Aber hier auf dem Friedhof hatte ich meine Ruhe, und genau die wollte ich auch haben. Eine leere Vase fand ich nicht mehr. Ich hatte auch keine mitgebracht, so zupfte ich aus einer anderen schon etwas verblühte Blumen hervor und stellte dafür meine frischen gelben Rosen hinein. Sie machten sich gut. Ich hatte sogar den Eindruck, als würden sie leuchten. So wie vielleicht Lady Sarahs Seele geleuchtet hatte, als sie ihren Körper verließ.
Ich richtete mich wieder auf und blieb vor dem Grab stehen.
Noch immer konnte ich nicht richtig begreifen, wer dort unten in der kalten Erde lag. Das erging mir auch so, wenn ich vor der Gruft meiner Eltern stand. Da meinte ich dann auch, dass sie jeden Moment um die Ecke kommen und mich ansprechen würden.
Das passierte nicht. Und auch hier blieb Sarah Goldwyn stumm.
Ich würde nie mehr ihre Stimme hören. Ich würde nie mehr hören, wenn sie mich als »mein Junge« rief, was auch meine Mutter zu ihren Lebzeiten getan hatte. Es war schwer für mich, dies zu ertragen.
Hätte ich jetzt geredet, ich hätte sicherlich meine eigene Stimme nicht wiedererkannt, so stark klemmte meine Kehle zu.
Vieles ging mir durch den Kopf. Ich sah Bilder von Szenen, die Sarah und ich gemeinsam erlebt hatten, und es waren nicht immer freundliche. Oft genug war es um Leben und Tod gegangen. Wie oft hatte ich mich aufgeregt, wenn Sarah
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