1331 - Hochzeitskleid und Leichenhemd
hin.
Immer und immer wieder.
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Weit riss sie die Augen auf. Aus ihrem Mund drang ein leiser Schrei. Erst danach presste sie die Hand vor die Lippen.
Ja, das war es. Da gab es keinen Irrtum. Das wichtigste Teil in diesem Raum fehlte – ihr Hochzeitskleid!
***
Gestohlen!
Man hat mir das Kleid gestohlen, durchfuhr es sie. Irgendjemand ist in das Zimmer eingebrochen und hat es sich geholt!
Eine andere Möglichkeit gab es für sie nicht. Aber wer, um alles in der Welt, tat so etwas?
Marietta konnte Stunden darüber nachdenken und sich den Kopf zerbrechen, eine Lösung würde sie nicht finden. Doch das Kleid war nicht mehr da. Dieser weiße Traum war gestohlen worden.
Hatte es einer der Gäste getan?
Nein, das glaubte sie nicht. Das wäre verrückt gewesen. Wer sollte so etwas tun? Bestimmt niemand von den Gästen und erst recht nicht ihr zukünftiger Mann.
Es blieb nur die Tatsache, dass ihr Hochzeitskleid nicht mehr vorhanden war. Und das wenige Stunden vor der Heirat, auf die sich Marietta so gefreut hatte.
Sie stöhnte auf. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Sie war froh, sich an einem Türpfosten festhalten zu können. Ihre Knie waren weich, und sie hatte Mühe, die Balance zu halten. Hinzu kam der Druck in ihrem Kopf. Sie konnte nicht mehr richtig denken. All die Vorfreude war ihr genommen worden.
Es dauerte seine Zeit, bis sie wieder klar denken konnte. Da kreisten ihre Gedanken vom Diebstahl weg, und plötzlich gab es für sie noch eine andere Alternative.
Das Kleid musste nicht unbedingt gestohlen worden sein. Jemand war in das Zimmer geschlichen, hatte es sich geholt und anschließend versteckt. Möglicherweise sogar in dem großen Schrank an der rechten Seite, der so hoch war, dass darin auch lange Kleider hängen konnten.
Vielleicht war sogar ihre Mutter noch mal gekommen. Da hatte sie das Kleid über der Couch liegen sehen. Sie hatte es dann genommen und in den Schrank gehängt, damit ihm nichts passierte.
Diese Lösung gefiel ihr am besten. Damit konnte sie leben, damit war sie einverstanden. Es wäre das Einfachste der Welt, wenn sie zum Schrank ging und nachschaute.
Sie wollte es auch. Nur konnte sie es nicht. Marietta wusste selbst nicht, was mit ihr los war. Sie stand auf der Schwelle. Der Wille war da, aber sie kam nicht weg.
Das hatte seinen Grund!
Marietta sah ihn nicht, sie hörte ihn nur. Und wieder entstand bei ihr der Schauer.
Er kroch wie mit unzähligen dünnen Beinen über ihre Haut hinweg. In ihrem Magen breitete sich ein Druck aus, den sie nicht zurückdrängen konnte. Es war so etwas wie eine Warnung vor dem Kommenden.
Sie sah nichts, aber sie hörte das Geräusch. Es waren schleifende und zugleich tappende Schritte, die im toten Winkel der Tür aufgeklungen waren.
Nein, doch nicht.
Sie war durcheinander. Das Geräusch hatte sie nicht hinter sich gehört, sondern rechts neben sich, wo sich die schmale Wand befand, die sie nicht einsehen konnte. Dazu hätte sie erst den Kopf scharf drehen müssen.
Marietta musste sich schon selbst überwinden. Es kostete sie Kraft, und sie sah zunächst nichts, weil dort ein hoher Schminktisch mit einem sehr protzigen Spiegelaufbau stand.
Aber dort bewegte sich etwas.
War es ein Schatten oder eine Gestalt, die sich jetzt von der Wand löste und in die Mitte des Zimmers hineinging? Sie schlich, und sie tappte zugleich. Nur war das Knarren der alten Holzbohlen nicht zu hören, weil dort ein schmaler Teppich lag.
Es war dunkel im Raum. So blieb es auch, denn Marietta traute sich nicht, das Licht einzuschalten. Sie wollte sich auch nicht bewegen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie wusste, dass etwas Unheimliches auf sie zukam. Zu dieser seltsamen Kälte hatte sich noch etwas anderes gesellt. Es war ein ungewöhnlicher Geruch, der ihr völlig fremd war. Ein irgendwie alter Geruch. Trotzdem passte er nicht in dieses Schloss, denn dieser Geruch schien aus einer vor sich hinmodernden Natur zu stammen.
Etwas schob sich durch die Düsternis des großen Zimmers. Es hatte jetzt seinen Platz an der Wand verlassen. Wieder hörte Marietta das Schleifen der Füße.
Was war es? Ein Schatten? Eine Gestalt? Noch fand sie die Wahrheit nicht heraus. Was sie sah, war etwas Weißes, das sich durch den Raum bewegte und sich dabei immer mehr in ihr Blickfeld schob.
Sehr weiß. Fast schon strahlend. So hell wie das Kleid, das sie zur Hochzeit anziehen wollte.
Das Kleid?
Fast hätte sie geschrien.
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