1331 - Hochzeitskleid und Leichenhemd
Im letzten Augenblick riss sie sich zusammen. Ja, das war ihr Kleid, und in ihm steckte ein anderer Körper…
***
Es war der dritte Schock, der Marietta in dieser Nacht traf. Er war zugleich der Härteste. Dass sie sich auf den Beinen hielt, kam ihr schon wie ein kleines Wunder vor. Sie hatte das Gefühl, dass unzählige Hände und Finger an ihr zupften und zerrten, und diese unnatürliche Kälte war wieder deutlicher zu spüren.
Aber auch der Geruch…
Marietta konnte den Blick nicht von dieser Erscheinung abwenden. Es war und blieb für sie eine Erscheinung und nichts anderes. Ein Gedanke ließ sich nicht aus ihrem Kopf wischen.
Es war einfach nicht möglich, dass sich ein Kleid von allein bewegte. Da kam noch etwas anderes hinzu. Es musste sich jemand das Brautkleid übergestreift haben.
Deshalb auch die seltsamen Schrittgeräusche.
Die andere Person hatte es jetzt geschafft, sich völlig aus dem Schatten der Wand zu lösen. Sie schwebte noch mehr der Zimmermitte entgegen, und Marietta schaute mit großen Augen zu.
Das Kleid bewegte sich nicht von allein. Jemand hatte es sich tatsächlich übergestreift. Die lange Schleppe wurde beim Gehen über den Boden gezogen und verursachte ein leises Rascheln.
Dieses Kleid zeigte keinen Ausschnitt, wie es bei den modernen Hochzeitsgewändern der Fall war. Es war hochgeschlossen, mit zahlreichen Knöpfen bestückt, und wer es öffnen wollte, der musste sich schon Zeit dafür nehmen.
Jemand steckte darin. Aus dem Halsausschnitt hervor wuchs ein Kopf, der sich jetzt drehte. Ebenso wie der gesamte Körper, sodass die Trägerin vor Marietta stand.
Wieder erreichte sie die Kälte. Abermals nahm sie den besonderen Geruch wahr.
Es war dunkel um sie herum. Aber nicht dunkel genug, als dass sie nichts hätte erkennen können. Außerdem stand die Gestalt dicht vor ihr, und Marietta schaute direkt hin.
Ihr Blick traf ein uraltes Gesicht!
***
»Der Teufel persönlich hat das Brautkleid erschaffen, Mr. Sinclair. Er hat es mit der heißen Höllennadel genäht.« Margot Kiddy schaute mich ernst an. »Glauben Sie mir!«
Ich nickte, ohne überzeugt zu sein.
»Es ist wahr!«
»Ja, ja…«, murmelte ich, während meine Gedanken abschweiften. Alles kam mir beinahe wie ein Traum vor. Ich befand mich in einem Raum, der noch aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen schien. Es war eine Schneiderwerkstatt. Zwei große, altertümliche Nähmaschinen, eiserne Bügeleisen, Scheren, Maßbänder, Stoffe, die sich in Ballen auf dem Boden türmten. Vergilbte Fotos an den Wänden. Sie zeigten Modelle, die vor 50 und mehr Jahren mal modern gewesen waren.
Eine alte Couch, die ebenfalls mit Stoffen bestückt war. Sie allerdings hatte Margot Kiddy bereits zurechtgeschnitten. Neben der Couch hatte ein fahrbarer Kleiderständer seinen Platz gefunden. Er hing voller Klamotten. An einigen Kleidern und Jacken war mit Schneiderkreide etwas eingezeichnet worden. Sogar einen Ofen sah ich. Er war allerdings kalt. Auf ihm standen zwei dieser alten Bügeleisen mit dem vorn offenen Holzgriff. Das hier erinnerte mich an Bilder, die ich mal in einem Museum gesehen hatte. Da war eine Schneiderei aus dem vorletzten Jahrhundert zu sehen gewesen, und diese hier sah wirklich noch so aus. Sogar das nur kleine Fenster war vorhanden.
Und Margot Kiddy?
Nun ja, sie war zwar nicht mehr die Allerjüngste, ich schätzte sie auf 50 Jahre, aber ihr ganzes Aussehen und Gehabe ließ sie in dieser Umgebung nicht wie ein Fremdkörper wirken, sondern wie jemand, der sich angepasst hatte.
Das sehr schwarze Haar war sicherlich gefärbt, und sie hatte es zu einer Pagenfrisur geschnitten. Diese Frisur erinnerte mich an die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Ihr Gesicht war etwas breit und kam mir puppenhaft vor, weil die helle Haut ein wenig glänzte. Die schmalen, dafür aber breiten Lippen hatte sie hellrot geschminkt, was einem Betrachter sofort ins Auge stach.
Dunkle Augen. Auch sehr dunkle und rasiert wirkende Brauen.
Eine sehr straffe Haut und recht kleine Ohren, an deren Läppchen rote Perlen steckten.
Sie trug ein blaues, ziemlich weit geschnittenes Kleid mit weißen Knöpfen an der Vorderseite. Aus den Ärmeln schauten Hände mit recht langen Fingern hervor, und an ihrem linken Arm befand sich dicht über dem Gelenk ein mit Nadeln gespicktes Steckkissen.
Lady Sarah, die leider verstorben war, hatte um ihren Hals fast immer Ketten hängen gehabt. Darauf hatte Margot Kiddy verzichtet. Um ihren Hals hing ein
Weitere Kostenlose Bücher