1344 - Fluchtburg der Engel
die Region unterhalb des Fensters. Es blieb dort dunkel und es wallten auch die grauen Schleier. Aber dazwischen bewegte sich etwas.
Wilma dachte an das Bild, das im Wohnzimmer an der Wand hing. Es zeigte beinahe das gleiche Motiv, das sie jetzt mit eigenen Augen sah, und sie erkannte tatsächlich diesen Umriss, als wäre er mit einem weichen Pinsel zwischen die Dunstschwaden gezeichnet worden.
Das war Wahnsinn, aber ein herrlicher. Endlich hatte sie nach so vielen Jahren des Hoffens und der Forschung den Beweis bekommen. Es gab die Wesen nicht nur, sie wollten auch zu ihr und hatten ihre Botschaft verstanden.
Der Duft nahm an Intensität zu. Er floss als weiches Aroma gegen Wilmas Gesicht, die tief einatmete und den Geschmack nach Vanille genoss. Ein bisher nie erlebtes Gefühl durchströmte sie dabei. Sie wurde so leicht, als hätte sie selbst Flügel bekommen.
Trotz allem wich Wilma Dorn vom offenen Fenster zurück, um dem Engel den nötigen Platz zu schaffen. Als normale Gestalt hatte sie ihn bisher noch immer nicht gesehen. Er war noch fließend. Er hob sich kaum von den Dunstwolken ab, aber er war auch keine Einbildung. Es gab diese helle verschwommene Gestalt wirklich.
Wilma lächelte glücklich. »Komm«, flüsterte sie dem Wesen entgegen. »Bitte, komm zu mir. Zu lange schon habe ich auf dich warten müssen. Endlich bist du da. Ich werde dir hier eine Heimat geben, wenn du die andere nicht mehr magst. Es ist so wichtig für mich…«
Der Ankömmling gab ihr keine Antwort. Damit hatte sie auch nicht gerechnet. Wenn er mit ihr kommunizieren wollte, dann sicherlich auf seine Art und Weise. Die Frau war davon überzeugt, dass Engel und normale Menschen einen Weg der Kommunikation finden würden. Darüber hatte sie auch in den vielen Büchern gelesen, die über Engel und deren Verhalten geschrieben worden waren.
Es war kalt draußen. Es war dunstig, doch Wilmas Herz durchströmte ein warmes Gefühl. In ihren Augen lag ein Glanz, wie man ihn sonst nur von Kindern kennt, die vor dem Weihnachtsbaum stehen und begeistert vom Licht der Kerzen sind.
Der Engel kam näher. Jetzt löste sich seine Gestalt von den ihn umgebenden Dunstwolken. Ob er Arme und Beine besaß war nicht genau zu erkennen. Jedenfalls wies sein Körper eine menschliche Form auf, ohne dass die Glieder zu erkennen waren.
Einen Laut hörte sie nicht. Der Engel brachte etwas anderes mit, das Wilmas Zimmer ausfüllte. Sie versuchte, es zu begreifen. Das gelang ihr nicht. Zunächst einmal musste sie sich mit dem kalten Hauch zufrieden geben, der an ihr vorbeiglitt und den sie sehr deutlich spürte, wobei sie ihn nicht mit der Kühle verglich, die vor dem Haus lag.
Der Engel war für sie ein Wunder. Oder ein Geschenk des Himmels. Der Vergleich kam ihr besser vor. Er war einfach etwas Wunderbares, und sie ging davon aus, dass er sie auf eine völlig neue Schiene bringen würde. Von nun an würde sich ihr Leben ändern.
Sie verbeugte sich vor der Gestalt, die eigentlich mehr ein Nebelstreif war.
»Willkommen in meinem bescheidenen Reich. Ich kenne deinen Namen nicht, ich weiß auch nicht, ob du mit mir, einem Menschen, reden kannst, ich hoffe es nur und wünsche es mir. Ich habe dafür gelebt, dich zu sehen und dir eine Heimat zu bieten. Hier soll es dir gut ergehen. Hier kannst du dich ausruhen, bevor du wieder zurückkehrst in deine so wunderbaren himmlische Sphäre.«
Wilma Dorn hoffte, mit diesen Worten den richtigen Ton getroffen zu haben. Sie wusste sehr gut, wie scheu und misstrauisch die Engel waren, besonders in der Fremde.
Der Bote aus einem unsichtbaren Reich hatte das offene Fenster als Einstieg benutzt. Er schwebte jetzt in das Zimmer hinein. Der Dunst, der ihm draußen Schutz gegeben hatte, war verschwunden und so schaute Wilma auf eine Gestalt, die eine relative Klarheit zeigte, aber auch weiterhin keine markanten Merkmale aufwies. Sie blieb feinstofflich und ähnelte dabei wirklich einem Gespenst.
Wilma hatte sich noch nicht an die Existenz des Engels gewöhnt.
Sie kam sich fremd in ihrer Umgebung vor, aber sie würde alles tun, um ihn zu behalten. Zunächst mal wich sie bis an die Tür zurück. Von diesem Platz aus hatte sie den besten Überblick.
Was tat der Engel?
Wilma zitterte innerlich. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er sich erst an die neue Umgebung gewöhnen müssen. Er hätte sie ausforschen können, er hätte versuchen können, Fragen zu stellen, aber er tat es nicht. Er drehte sich auf der Stelle und schwebte
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