135 - In der Falle
waren ihr zu klein. Dafür verdeckte der breitkrempige Lederhut ihr kantiges Gesicht zum Teil.
Hübsch sah er aus, der Mann im Spiegel. Aber er hatte absolut nichts mit ihr und ihrem vergessenen Leben zu tun.
Sonst würde sein Anblick doch Erinnerungen wecken, oder?
Sie fixierte das Gesicht im Spiegel und versuchte zugleich die Tür in ihrem Kopf wieder zu erreichen. Es hatte einen Kampf gegeben. Plötzlich wusste sie es wieder. Aber mit wem? Und warum? Die Tür in ihrem Kopf ging einen Spalt weit auf.
Erinnerungsfetzen stiegen empor.
Das Gesicht im Spiegel straffte sich, bekam weichere Formen. Ihr Blick fiel auf den Trenchcoat und den Arm, der ihn trug. Sie riss die Augen auf und hielt den Atem an: Keine Hand ragte aus Jackettärmel und Hemdmanschette, sondern eine schuppige Klaue! Auch ihre Gesichtshaut hatte plötzlich Schuppen, und Mund und Nase verwandelten sich in die Schnauze einer Echse…
Eine Frau kam aus dem Modehaus, hob wie zufällig den Blick, erstarrte, als sie den Mann und sein Spiegelbild entdeckte, und begann gellend zu schreien. Rauna/Arnau riss sie an sich, drückte das Echsenmaul auf ihre roten Lippen und küsste sie. Sie drängte sie ans Schaufenster und klemmte ihre zappelnden Beine zwischen ihren Knien ein. Mit den Klauen hielt sie ihren Kopf fest und küsste sie, bis sie erstickte.
Passanten verlangsamten ihre Schritte, einige bleiben stehen. Sie gafften – erst neugierig, dann mit gerunzelten Stirnen, und schließlich, als die Leiche langsam aus ihren Armen glitt und auf den Bürgersteig sank, mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Einer zog ein Mobiltelefon aus der Tasche und rannte davon. Die anderen wirkten wie erstarrt.
»Ich bin Arnau«, sagte sie. »Ich bin der Erste Berater der Königin von Berlin!« Langsam ging er auf die Gaffer zu.
Einige zogen die Schultern hoch und liefen weiter, als wäre nichts geschehen. Anderen zitterten die Unterkiefer, und als eine Frau schreiend die Flucht ergriff, ging ein Ruck durch die Menge und alle anderen folgten ihr. Die Straße war plötzlich wie leergefegt.
Sie wandte sich nach links und ging gemessenen Schrittes auf eine Kreuzung zu, als wäre nichts geschehen. »Arnau…«
Sie lauschte dem Klang dieses Namens nach. »Arnau, der Erste Berater der Königin von Berlin…« Die Erinnerungsfetzen begannen sich langsam zu einem Bild zusammenzusetzen. Sie konnte jedoch immer noch keine Einzelheiten erkennen und wusste auch nicht, inwiefern sie etwas mit diesem Bild zu tun hatte.
Sie erreichte die Kreuzung.
Menschen an der Fußgängerampel flüchteten vor ihr. Sie betrachtete sich im Schaufenster eines Juweliers – noch immer das Echsengesicht.
Konnte sie das denn beeinflussen?
Sie dachte an den Mann, den sie zuvor im Spiegel des Modehauses gesehen hatte. Und tatsächlich: Ihr Gesicht veränderte sich langsam. Sie dachte an die Blondine, die sie kurz nach dem Aufwachen im Spiegel gesehen hatte – und ihr Gesicht nahm Gestalt und Form eines Frauengesichts an. Doch noch immer ragte eine Schuppenklaue aus dem Trenchcoat.
Perfekt beherrschte sie die Verwandlungskunst noch nicht.
Sirenen näherten sich. Sie drehte sich um. Verkehr rauschte über die Kreuzung. Ihr Blick fiel auf ein Straßenschild neben der Fußgängerampel: ALEXANDERSTRASSE. Nein, kannte sie nicht, hatte sie nie zuvor gehört. Oder?
Ein Rettungswagen raste mit heulenden Sirenen vorbei und stoppte vor dem Modehaus. Sie blickte ihm hinterher – und entdeckte einen Steifenwagen, der mit Blaulicht und ausgeschalteter Sirene heranrollte. Er hielt an und zwei Uniformierte entstiegen ihm. Auch von der anderen Seite näherte sich ein Polizeiwagen. Er stoppte mitten auf der Kreuzung. Der Fahrer stieg aus und reckte eine Art Kelle mit rotem Licht in die Luft, um den Verkehr zu stoppen. Der Beifahrer zog seine Waffe und rannte über die Kreuzung. Zu dritt und mit ihren Pistolen im Anschlag kreisten sie sie ein.
»Nehmen Sie die Hände hoch!«, brüllte einer. »Sie sind verhaftet!«
Sie ließ den Trenchcoat fallen und hob beide Arme. Ein silbergrauer Wagen stoppte vor dem Streifenwagen am Straßenrand, der Fahrer stieß die Beifahrertür auf. Er erwies sich als schwarzhäutiger Mann im schwarzen Ledermantel.
Sehr vorsichtig näherten sich die Bewaffneten, als hätten sie Angst vor ihr. Zwei von ihnen blieben einen Schritt vor ihr stehen. Sie hielten die Kolben ihrer Waffen mit beiden Händen fest.
»Eine falsche Bewegung und sie schießen«, sagte der Dritte.
Er packte sie am
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