135 - In der Falle
ihr Versteck. Sie besaß noch etwas mehr als einen Liter Wasser und das verschimmelte Brotstück. Nacht für Nacht war Claas auf Raubzüge gegangen und hatte sich und seine Königin ernährt. Doch seit drei Tagen fehlte jede Spur von ihm.
Zwei Tage würde das verbliebene Wasser sie noch am Leben erhalten. Dann musste sie ihr Versteck verlassen, um sich selbst ihre Nahrung zu suchen. Arnau – alias Königin Rauna – wusste das wahrscheinlich und rieb sich schon die Hände. Und die menschlichen Sklaven der Daa’muren würden längst die Fallen aufstellen. Ihre Lage erschien Jenny hoffnungslos.
Am Nachmittag hörte sie Stimmen draußen auf dem Marktplatz. Sie kümmerte sich nicht darum. Wenig später jedoch, als Hammerschläge über den Platz hallten, stand sie auf und spähte vorsichtig aus dem Kerkerfenster. Sechs Männer zimmerten ein Podest zusammen. Oberst Willman stapfte um die Arbeiter herum, hin und wieder rief er einen Befehl.
Jenny kannte die Art von Podest, die dort draußen aufgebaut wurde. Seit Generationen richtete man in Berlin auf solchen Podesten zum Tode verurteilte Gefangene hin.
An der feuchten Kerkermauer entlang rutschte sie zu Boden.
Plötzlich fühlte sie sich elend und matt. Kein Auge tat sie zu in dieser Nacht. Erst am Morgen, mit dem ersten Licht des neuen Tages fiel sie in oberflächlichen Schlaf.
Trommelwirbel und Fanfarenstöße rissen sie aus einem Albtraum. Sie stemmte sich auf die Knie, stand auf, lugte aus dem Kerkerfenster. Willman und der Onkel des toten von Leyden standen auf dem Podest, zwischen ihnen ein Mann mit Beil und schwarzer Kapuze. An die zweihundert Männer und Frauen hatten sich auf dem Markplatz versammelt. Königin Rauna konnte Jenny nirgends entdecken. Jeweils vier Palastwächter schleppten zwei Gefesselte herbei; zerschlagene, zerlumpte Männer. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Jenny das geschundene Paar: Claas und Wulfgang. Man zerrte sie auf das Podest. So schnell, dass Jenny kaum Zeit blieb, den entsetzten Blick abzuwenden, schlug der Henker zu. Starr vor Schreck und atemlos hing sie am Gitterfenster.
Franz-Gustav von Leyden erhob seine Stimme. »Im Namen unserer Herrin, der Königin Rauna! Wir wissen, dass du in der Stadt bist, Jennifer Jensen, du Mörderin! Die Herrin in ihrer Gnade gewährt dir vierundzwanzig Stunden Zeit, dich aus freien Stücken zu stellen. Weist du diese Gnade zurück, werden die nächsten Köpfe rollen!«
Jenny presste die Stirn an die feuchte Kerkerwand. Ein Traum, ein böser Traum! Sie zitterte.
Stundenlang lag sie später auf dem Boden, zusammengekauert wie ein Säugling. Sie war nur noch eine Ansammlung von müden Knochen und hungrigem Fleisch.
Was hatte sie nicht alles bewältigt in den fünf Jahren, seit ein zynisches Schicksal sie in diese Albtraumwelt katapultiert hatte – Gesetzlosigkeit, Barbarei, Zerstörung, Intrigen. Aber der kalten Grausamkeit Arnaus war sie nicht gewachsen.
Sie weinte nicht, sie betete nicht, sie jammerte nicht – lag nur da, zitterte und umklammerte ihr Funkgerät. Aus eigener Kraft konnte sie sich nicht mehr retten. Ihre letzte Chance hieß Matthew Drax.
Als das Licht des Tages verblasste, stand sie auf und versuchte über ISS-Funk erneut Kontakt zu Matt aufzunehmen…
***
Ich bin Est’sil’aunaara…
Tief atmete sie die heiße Luft ein. »Wie konnte es geschehen, dass ich in einen Zeitriss gestürzt bin?« Sie richtete sich auf. Ihr Kopf tauchte ganz in die Dampfschwaden ein, die unter der Decke des Hitzeraumes schwebten. »Ich erinnere mich nur dunkel an einen Kampf!«
»Ein Kampf, richtig. Königin Jenny ist es gelungen, die Siedler gegen dich aufzuhetzen.«
»Wie das? Ich habe sie im Turmzimmer einschließen lassen. Meine verlässlichsten Diener bewachten sie.«
»Verrat. Sie konnte flüchten. Die Siedler haben dich überfallen. Ein schwerer Stein, von der Mauerkrone geschleudert, raubte dir die Besinnung.«
»Das… das ist ausgeschlossen. Sie sind Sklaven, sie tun was ich will! Jeder von ihnen wurde sorgfältig mit dem Virus infiziert!«
»Vielleicht haben sie ein Gegenmittel entwickelt?«
Ora’leq’tarquan zog die Schuppenwülste über seinen gelben Augen hoch.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Und warum habe ich keine Erinnerung an diese Ereignisse?«
»Der Stein hat dein zentrales Nervensystem verletzt und eine Amnesie ausgelöst. Du musst lange bewusstlos gewesen sein.«
»Aber das erklärt nicht diese Zeitreise. Was ist danach mit mir geschehen?«
»Es sieht
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