135 - Madame La Roshs Marterhaus
offenstehenden Nordtor einschlug, betrat sie ein
Nebenzimmer, das nur von ihr geöffnet werden konnte. Die Tür war als
Tapetenbild getarnt, niemand vermutete hier einen Eingang.
Madame besaß als einzige einen Schlüssel zu diesem
Raum. Sie verschwand darin.
Draußen auf der Treppe wartete Anne geduldig auf
Madames Rückkehr. Sie wußte von diesem Zimmer, in das sonst niemand im Haus
Zutritt hatte. Niemand hätte auch je versucht, sich mit Gewalt dort Eingang zu
verschaffen. Das war nicht notwendig. Hier im Haus gab es keine Geheimnisse
voreinander... wenn man davon absah, daß bis auf Madame kein Mensch wußte, was
sich im Raum hinter der Tapetentür befand.
Elvira La Rosh kam wieder heraus und hielt ein
braunes, matt schimmerndes Keramikgefäß in der Hand, das aussah wie der
aufgeblähte Bauch einer Buddhastatue, der das Oberteil fehlte. Der Topf war
verschlossen mit einer
sackähnlichen Leinwand, die wie Cellophan darüber gespannt,
aber nicht durchsichtig war.
Elvira La Rosh trug das dunkelbraune, an verbrannte
Erde erinnernde Gefäß mit beiden Händen vor sich her wie einen kostbaren,
leicht zerbrechlichen Gegenstand.
»Komm«, sagte sie leise, die Treppe nach unten gehend.
Anne Sordan ging ihrer Herrin zwei Stufen voraus.
Gemeinsam passierten sie den weiten, stillen Flur, und Anne öffnete die Tür
über die hintere Terrasse, damit sie sich den Umweg ums Haus ersparten.
Zehn Minuten später erreichten sie jene Stelle, wo die
beiden Toten lagen.
Vorsichtig stellte Elvira La Rosh den bauchigen,
verschlossenen Krug seitlich an den Wegrand, weit genug entfernt, damit man ihn
aus Versehen nicht umstoßen konnte.
Der tote Gärtner lag an den Baum gelehnt, vor dem er
gestanden hatte, als der tödliche Schuß fiel. Jim hatte die Augen weit
aufgerissen, und noch jetzt zeigte sich in seinem Blick ungläubiges Erstaunen,
als könne er nicht fassen, was da sein Mörder mit ihm machte.
Das kleine Loch mitten in seiner Stirn war nur ein
klein wenig mit Blut verkrustet.
Madame wandte sich dem anderen Toten zu.
Der lag seitlich und mit dem Gesicht am Boden.
»Drehen Sie ihn herum, Anne! Ich möchte sehen, wie er
aussieht.«
Anne Sordan gehorchte. Sie ging in die Hocke, und als
wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt, drehte sie die Leiche
herum. Annes Hände zitterten nicht mal.
Sie löste die Motorradbrille.
Es war ein jugendliches, hart geschnittenes Gesicht
mit einer geraden Nase, schmalen Lippen und schmalen, schwarzen Brauen, die
über der Nase zusammengewachsen waren.
Das Haar war gescheitelt und reichte bis an beide
Ohrläppchen.
Der Mann vor Madame La Roshs Füßen war schätzungsweise
achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt.
Sie hatte ihn nie zuvor gesehen.
Ein maliziöses Lächeln spielte um die blutroten Lippen
der Herrin des La Rosh-Hauses. »Ihr seid Narren«, murmelte sie. Es schien, als
könne sie sich vorstellen, was sich hier abgespielt hatte. »Glaubt ihr denn
wirklich, so hinter sein Geheimnis zu kommen? Auf diese Weise wird es euch nie
gelingen...«
Sie wollte noch etwas sagen, als ihr Blick auf die
Waffe fiel, die der Tote in der Hand hielt und auf das fein durchlöcherte
Armgelenk. Die Ränder eines nadelfeinen Loches waren schwarz versengt, als ob
jemand im wahrsten Sinn des Wortes eine glühende Nadel ins Fleisch des Fremden
gebohrt hätte.
Elviras Augen verengten sich. Sie konnte sehr gut
sehen.
»Da scheint noch mehr zu sein, als mir im ersten
Augenblick zu der Geschichte einfällt, Anne«, murmelte sie abwesend. »Aber so
ist das ja meistens. Wo einer einen Fisch an Land zieht, meint ein anderer, für
seine Angel müsse an der gleichen Stelle wohl auch etwas vorhanden sein...«
Sie wandte sich kurzentschlossen ab. Ihre Augen
befanden sich in ständiger Bewegung, und sie warf aus den Augenwinkeln heraus
einen langen, sezierenden Blick auf den Pfad vor dem geöffneten Tor, auf die
Büsche und Sträucher und den beginnenden Abhang dahinter.
Sie hatte kurz das Gefühl, als halte sich gerade in
dieser Sekunde dort jemand auf, der genau sehen wollte, was sich hieraus
entwickelte. Denn die Bilder sprachen für sich: es mußte mindestens einen
Menschen geben, der den Vorfall beobachtet hatte. Einer, der keine gewöhnliche
Waffe in seinem Besitz hatte... für so etwas hatte Madame einen Blick.
Für einen Moment zögerte sie, ihr Schritt stockte, und
es schien, als wolle sie ursprünglich zu dem weit geöffneten Eisentor gehen, um
es zu schließen.
Aber dann besann
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