1350 - Im Wald der toten Gesichter
ob sie Slims Herz über die Halsschlagader schlagen spüren konnte. Doch das war nicht mehr möglich. Schon beim Hinführen der Hand war ihr die Veränderung aufgefallen. Die Haut ließ sich nicht mehr eindrücken. Bei einem Toten hätte sie das gekonnt, nur nicht bei ihm.
Wieso und warum nicht? Was war mit ihm geschehen? War tatsächlich sein gesamter Körper versteift? Von den Füßen bis hin zum Kopf?
Es stimmte, und es stimmte trotzdem nicht. Er war nicht nur versteift, er hatte sich auch von der Beschaffenheit seines Körpers her verändert. Sie schaute zwar auf eine Haut, konnte jedoch nicht akzeptieren, dass es eine war. Nein, das war keine normale Haut, sondern etwas anderes. Wenn sie dagegen tippte, gab es einen harten Widerstand.
Wie bei Holz!
Holz! Genau das war es. Der Mann war verhölzert oder wie auch immer man dies bezeichnen wollte. Es war Lucy nicht mehr möglich, festzustellen, ob sein Herz noch schlug, denn der Körper aus Holz leitete keinen Schall weiter. Alles war anders geworden.
Da lag kein Mensch, sondern jemand, der in den letzten Sekunden in ihrem Beisein auf eine fürchterliche Art und Weise und unter schlimmen Qualen gestorben war.
Ihr Hals war wie zugeschnürt. Ihr Herz schlug wahnsinnig schnell. Sie merkte, dass sie zitterte, und dann tat sie etwas, was sie selbst nicht begriff.
Lucy krümmte den rechten Zeigefinger und klopfte mit dem Knöchel gegen die Brust des Wirts.
Das Geräusch, das sie hörte, war völlig normal, aber trotzdem verdammt schlimm. So dumpf und ohne Echo. So hörte es sich an, wenn jemand wirklich auf massives Holz klopfte.
Jetzt wurde ihr bewusst, was hier wirklich geschehen war. Hier war ein normaler Mensch auf eine unaussprechliche und auch unerklärliche Art und Weise ums Leben gekommen. Von innen her war er verholzt. Eine Tatsache, die sie akzeptieren musste, die jedoch nicht in ihren Kopf hineinging. Das konnte sie einfach nicht begreifen.
Lucy schaffte es dennoch nicht, sich dagegen zu stemmen. Das allmähliche Begreifen beeinträchtigte auch ihr Reaktionsvermögen.
Etwas steckte in ihr, es musste raus. Ohne dass sie es richtig wollte, hob sie den Kopf an und schaute nach vorn.
Dabei bemerkte sie, dass ihr Blick längst nicht mehr klar war, sondern verschwommen. Es lag an den Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten.
Um sie herum standen Menschen. Es kamen auch noch welche hinzu. Sie bewegten sich nicht, sie starrten nur nach unten auf den Boden, und Lucy fing an zu schreien.
Sie schrie wie am Spieß und brach schließlich über dem hölzernen Toten zusammen…
***
Es war eine Arbeit gewesen, die keinem von uns Spaß machte, aber wir hatten sie hinter uns bringen müssen. Wir konnten die Leiche unmöglich am Straßenrand liegen lassen oder wieder zurück in das Wasser legen. Wir mussten den Toten mitnehmen.
Also hatten wir ihn in den Kofferraum des BMW gelegt, was Suko nicht eben gefiel. Er hatte es mit einem Anheben der Augenbrauen hingenommen und keinen Kommentar gegeben.
Schweigend waren wir wieder eingestiegen. Suko hatte das Lenkrad übernommen. Er fuhr langsam weiter und stellte die Frage, die auch Bill und mich beschäftigte.
»Warum hat man ihn getötet?« Eine Antwort konnten wir ihm nicht geben. Aber wir ahnten oder wussten, wer sein Mörder war.
Man hatte ihn auf eine böse und schreckliche Art und Weise vom Leben in den Tod befördert. Als Waffe war ein Schnitzmesser benutzt worden. Aber der Tote bestand nicht aus Holz. Dementsprechend schlimm sah er aus. Wer das getan hatte, musste eine Bestie sein und kein Mensch.
»Wir werden uns mit diesem Korbinian so schnell wie möglich beschäftigen müssen«, sagte Suko leise. »Und ich bin sicher, dass er sich hier im Ort aufhält.«
»Der versteckt sich nicht mal«, meinte Bill.
»Ja, das denke ich auch.«
»Und wo könnte er sein? In seiner Werkstatt? In seiner Wohnung? In seinem Haus?«
»Wir werden es herausfinden«, sagte ich. »Und diesmal gibt es keine Ausreden.«
Das sahen auch Bill und Suko so. Wir drei wussten, dass wir den richtigen Ort erreicht hatten. Hier spielte die Musik der Hölle, und der Teufel persönlich war der Dirigent.
Ich konzentrierte mich auf den Ort. Er rückte näher. Ich schaute die Straße entlang, die in ihn hineinführte und deren grauer Belag sich zwischen den Häusern verlief.
Es hatte sich äußerlich nichts verändert. Nach wie vor bewegten sich nur wenige Menschen in der Umgebung, aber das änderte sich, als die ersten Häuser an
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