1356 - Am Abgrund des Lebens
zu ihm.
Er war wieder da, er lebte, aber er lebt jetzt anders. Er war ein Geschöpf der Nacht geworden.
Boris Nolan stand auf. Er klappte nicht wieder zusammen, sondern blieb breitbeinig stehen. Sein Körper schwankte leicht, und er richtete seinen Blick auf eine bestimmte Stelle in der Wand. Dort hatte sich der Spalt etwas verbreitert.
Es lag nicht mehr die Nacht draußen. Die Morgendämmerung hatte eine ungewöhnliche Farbe geschaffen. Für Boris war es wichtig, dass er nicht von den Strahlen der Sonne getroffen wurde.
So sehr er die Finsternis liebte, so stark hasste er das Sonnenlicht.
Vor dem Spalt ließ er sich auf die Knie fallen. Er brachte ein Auge dicht an die offene Stelle und hatte sich genau den richtigen Platz ausgesucht.
Er konnte in einem relativ flachen Winkel und auch ungestört gegen den Himmel schauen.
Noch war er grau, aber darin hatte sich bereits die Helligkeit hineingedrückt. An einer bestimmten Stelle war sie stärker vertreten, auch wenn der helle Kreis dort von Wolkenschleiern leicht dunstig gemacht wurde.
Aber es gab ihn, und das war wichtig, denn dort oben zeichnete sich der Mond ab.
Für Boris war er der Himmelskörper. Er fühlte sich wahnsinnig zu ihm hingezogen. Es gab Menschen, die sich als Sonnenanbeter bezeichneten. Ihn aber interessierte nur der Mond, und er merkte auch, dass von ihm eine Strahlung ausging, die ihn positiv beeinflusste.
»Sie macht mich stark«, flüsterte er. »Sie macht mich so wunderbar stark. Ich liebe sie, denn sie ist etwas Besonderes.« Er lachte schrill auf und schüttelte den Kopf.
Dann endlich war Zeit, sich um den Druck zu kümmern, den er an seinem Oberkiefer spürte. Etwas stimmte mit seinen Zähnen nicht.
Zumindest zwei von ihnen schienen sich aus dem Kiefer nach vorn pressen zu wollen.
Er fühlte nach.
Passiert war noch nichts. Nur der Druck blieb bestehen. Aber er wusste auch, dass er seinen Weg in die neue Zukunft ebnen würde.
Eine Zukunft, für die der Tag nicht mehr galt, denn sie lag allein in der mondhellen Nacht…
***
Ich konnte nicht für Suko sprechen, doch ich glaubte, dass sich sein Gefühl von meinem wohl kaum unterschied, als wir in Begleitung des Arztes dorthin gingen, wo wir Vincent van Akkeren treffen würden.
Ich hatte ihn zuletzt als ein Nichts gesehen. Er war nur noch eine Erinnerung an den ehemaligen Grusel-Star gewesen. Der Geist des Baphomet war aus ihm herausgetrieben worden und hatte ihm seine innere Stärke genommen.
Aber er hatte ihn auch körperlich verändert. Ein Wrack, zusammengefallen, weiche Knochen, labberige Haut. Augen, die tief in den Höhlen lagen. Ein Mensch, der diesen Namen nicht verdiente.
Aber dieses Wrack lebte, und ich konnte mir vorstellen, dass sich der Hass in ihm gehalten hatte. Van Akkeren würde sich an alles erinnern können, was passiert war, und da gab es nur eines für ihn.
Wir standen auf der Liste seiner Todfeinde ganz oben!
Nun ja, das hatte er uns beweisen wollen, und er hatte verloren.
Wir waren frei. Er aber hockte in dieser Klinik, ohne eine Verbindung zur Außenwelt zu haben. Und er würde nie die Chance bekommen, dieses Haus zu verlassen, zumindest nicht lebend.
So sah es aus. So musste man es sehen. Genau damit hatte ich meine Probleme.
Wo immer ein van Akkeren auch steckte und mochte seine Lage noch so bescheiden sein, er war jemand, der nicht aufgab. Der würde immer versuchen, einen Dreh zu finden, um auch aus den extremsten Situationen wieder herauszukommen.
Er lauerte noch immer auf Hilfe. Und einem Pfleger hatte er etwas von einer Sense berichtet. Bestimmt nicht nur, um ihm Angst einzujagen, denn einer wie van Akkeren glaubte an seine Helfer. Auf Baphomet musste er verzichten, denn diese Zeiten waren vorbei.
Aber es gab noch einen zweiten Helfer, auf den er sich verlassen konnte. Van Akkeren hatte stets zwei Eisen im Feuer gehabt.
Mit einer Sense würde ihm nur einer zur Seite stehen. Das war der Schwarze Tod.
Wie gingen einfach davon aus, weil wir ihn gut genug kannten.
Auch Suko dachte wie ich, denn als ich ihm einen Seitenblick zuwarf, sah ich sein knappes Lächeln.
»Du denkst so wie ich – oder?«, fragte ich ihn.
»Ja, das tue ich.«
»Und? Wie siehst du seine Chancen?«
»Wenn ich mies sagte, würde ich lügen, John. Ein normaler Mensch hat keine, aber unser Freund ist alles andere als normal. Außerdem hat er verdammt gute Helfer.«
Mein Freund nickte. »Ich wünsche es mir nicht, aber es würde mich schon interessieren, wie ein
Weitere Kostenlose Bücher