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Blattgoldverzierungen geschmückt war. Die Buchstaben waren so groß, dass auf jede Seite nur wenige Worte passten. «Die Augen meiner Schwiegermutter waren nicht sehr gut», erklärte die Comtesse, «also haben die Mönche die Buchstaben groß gemacht. Das war sehr zuvorkommend von ihnen.»
Die meisten Bilder stellten Heilige dar, wie Thomas feststellte. Da war Radegundis mit ihrer Krone, die bei einem Berg Ziegelsteine zu sehen war, während hinter ihr eine große Kirche gebaut wurde. Thomas wendete die steife Seite um und hatte ein grauenvolles Bild des heiligen Leodegar vor sich, das den Bischof zeigte, während ihm ein Soldat mit einer Ahle das Auge ausstach. «Ist das nicht entsetzlich?» Die Comtesse hatte sich vorgebeugt, um die Bilder sehen zu können. «Sie haben ihm auch die Zunge herausgerissen. Henri hat mir immer gedroht, mir auch die Zunge herauszureißen, aber er hat es nicht getan. Vermutlich sollte ich dafür dankbar sein. Das ist Clémentin.»
«Als Märtyrer?»
«Oh gewiss. Ausweidung ist ein sicherer Pfad zur Heiligkeit. Der arme Mann.» Dann kam Sankt Remigius, der einen Mann taufte, der nackt in einem großen Zuber stand. «Das ist die Taufe Chlodwigs», erklärte die Comtesse, «und war Chlodwig nicht der erste König des Frankenreichs?»
«Ich glaube schon», sagte Thomas.
«Dann sollten wir wohl dankbar dafür sein, dass er Christ geworden ist», sagte die Comtesse, streckte die Hand aus und blätterte die Seite um, sodass nun Sankt Christophorus zu sehen war, der das Jesuskind auf der Schulter trug. Im Hintergrund war der Kindermord in Bethlehem abgebildet, doch der bärtige Heilige hatte das Jesuskind sicher von dem Feld weggetragen, auf dem Dutzende blutbeschmierte tote und sterbende Kinder lagen. «Der heilige Christophorus sieht aus, als würde er das Kind gleich fallen lassen, nicht wahr? Ich denke immer, Jesus muss ihn gerade nass gemacht haben oder so etwas. Männer sind hoffnungslos, wenn es um Säuglinge geht. Oh, das arme Mädchen!» Der letzte Kommentar bezog sich auf die Heilige Apollonia, die auf dem Bild von Soldaten in zwei Teile zersägt wurde. Ihr Bauch war aufgerissen, Blut strömte über die Seite, während sie fromm zu den Engeln hinaufblickte, die hinter einer Wolke hervorspähten. «Ich frage mich immer, warum die Engel nicht herabsteigen und sie retten!», sagte die Comtesse. «Es muss sehr unangenehm sein, in zwei Teile gesägt zu werden, und die Engel sitzen auf ihren Wolken und tun gar nichts! Das ist nicht sehr engelhaft. Und dieser Mann ist ein Narr!» Thomas hatte zu Sankt Mauritius umgeblättert, der zwischen den Männern seiner Legion kniete. Mauritius hatte seine Männer aufgefordert, lieber den Märtyrertod auf sich zu nehmen, als eine christliche Stadt anzugreifen, und seine römischen Gefährten hatten seinen frommen Wunsch erfüllt. Der Maler zeigte eine blutige Ernte von niedergemähten Körpern auf einem Feld, während die Mörder auf den knienden Heiligen vorrückten. «Warum hat er nicht gekämpft?», fragte die Comtesse. «Es heißt, er hatte sechstausend Soldaten, und doch fordert er sie auf, sich wie die Lämmer abschlachten zu lassen. Manchmal muss man ganz besonders dumm sein, um ein Heiliger zu werden.»
Thomas blätterte die letzte Seite um und erstarrte.
Denn da war er, der Mönch im Schnee.
Die Comtesse lächelte. «Seht Ihr? Ihr braucht keinen Gelehrten, nur eine alte Dame.»
Das Bild unterschied sich von dem Wandgemälde in Avignon. Der Mönch in dem Buch kniete nicht an der Stelle, an der kein Schnee lag, sondern hatte sich dort schlafend zusammengerollt. Kein Petrus war zu sehen, aber ein kleines Haus auf der rechten Seite, und ein zweiter Mönch spähte durch ein Fenster heraus. Der schlafende Mönch, um dessen Kopf ein Heiligenschein strahlte, lag im Gras, aber die übrige Landschaft, ebenso wie das Dach der Hütte, war tief verschneit. Es war Nacht, die Sterne schimmerten am dunkelblauen Himmel, und ein einzelner Engel wachte von diesen Sternen aus über die Szene, und auf dem blumenbemalten Rand des Bildes stand der Name des Heiligen.
«Sankt Junien», sagte Thomas. «Ich habe noch nie von ihm gehört.»
«Vermutlich hat kaum jemand je von ihm gehört.»
«Junien», wiederholte Thomas den Namen.
«Er war der Sohn eines Adeligen», sagte die Comtesse, «und er muss sehr fromm gewesen sein, denn er nahm einen langen Weg auf sich, um bei Sankt Amand zu studieren, doch er kam bei Nacht an, Amand hatte seine Tür verriegelt,
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