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heilige Lucia sich selbst die Augen herausgerissen hat? Und nur, weil ein Mann gesagt hat, wie schön ihre Augen waren? Gott sei Dank haben ihm ihre Brüste nicht gefallen! Trotzdem, sie würde immer noch eine gute Frau abgeben.»
Thomas starrte den jungen Iren an. «Eine gute Frau?»
«Mein Vater sagt immer, die beste Ehe kommt zwischen einer blinden Frau und einem tauben Mann zustande. Also, wo finde ich Euch, nachdem ich die Zungen gelöst habe?»
Thomas deutete auf die Gasse neben dem Konvent. «Ich werde dort warten.»
«Und dann werden wir Fäkalienkutscher. Bei Gott, ich liebe es, ein Waffenknecht zu sein. Wollt Ihr, dass dieser Bruder Michael mit uns kommt?»
«Nein, um Himmels willen. Erklär ihm, dass es seine Pflicht ist, sich in der Medizin auszubilden.»
«Der arme Kerl. Also wird er Pisseschnüffler?»
«Geh», sagte Thomas, und Keane ging.
Thomas versteckte sich in den Schatten, die so schwarz waren wie eine Mönchskutte. Er hörte die Ratten im Unrat rascheln, einen Mann hinter einem Fensterladen schnarchen, ein Kind weinen. Ein paar Wachleute gingen mit einer Laterne an dem Konvent vorbei, doch keiner von ihnen warf einen Blick in die Gasse, in der Thomas mit geschlossenen Augen für Genevieve betete. Wenn Roland de Verrec sie der Kirche auslieferte, würde sie erneut verurteilt werden. Aber bestimmt, dachte er, würde der jungfräuliche Ritter sie als Geisel behalten, um sie gegen Bertille auslösen zu lassen, die Comtesse de Labrouillade, und das bedeutete, dass de Verrec für Genevieves Sicherheit sorgen würde, bis der Austausch stattgefunden hatte. Das Petrusschwert konnte warten; zuerst würde sich Thomas mit dem jungfräulichen Ritter auseinandersetzen.
Es wurde schon fast hell, als Keane zurückkam. «Euer Mönch war nicht dort», sagte er, «aber ich habe einen gesprächigen Stallknecht getroffen. Und Ihr habt Schwierigkeiten, weil die Torwachen angewiesen worden sind, nach einem Mann mit einer verunstalteten linken Hand Ausschau zu halten. War das eine Schlacht?»
«Das war ein Dominikaner im Folterkeller.»
Keane zuckte zusammen, als er die Hand betrachtete. «Bei Gott. Was hat er gemacht?»
«Schraubpresse.»
«Ah, sie dürfen kein Blut fließen lassen, oder? Weil das Gott nicht gefällt, aber diese Kerle können einen trotzdem sehr leicht um den Schlaf bringen.»
«Bruder Michael war nicht in dem Gasthaus?»
«War er nicht, und der Stallknecht hatte ihn weder gesehen, noch schien er zu wissen, von wem ich rede.»
«Gut, dann ist er zu seinem Medizinstudium gegangen.»
«Ein Leben lang Pisseschnüffeln», sagte Keane, «aber der Knecht hat erzählt, dass Euer anderer Freund gestern die Stadt verlassen hat.»
«Roland de Verrec?»
«Ganz recht. Er hat Eure Frau und Euer Kind Richtung Westen weggebracht.»
«Nach Westen?», fragte Thomas erstaunt.
«Da war er sicher.»
War Verrec also Richtung Toulouse unterwegs? Was wollte er in Toulouse? Viele Fragen rasten Thomas durch den Kopf, doch Antworten fand er keine. Was er wusste, war lediglich, dass Roland Montpellier verlassen hatte, und das schien zu bedeuten, dass sich der jungfräuliche Ritter nicht weiter für Thomas interessierte. Er hatte Genevieve und musste wissen, dass er sie gegen Bertille austauschen konnte, während Thomas, davon ging Roland wohl aus, von der Stadtwache Montpelliers verhaftet würde. «Wo sind diese Fäkalienkarren?»
Keane führte ihn westwärts. Die ersten Haustüren wurden geöffnet. Frauen trugen leere Kübel zu den Stadtbrunnen, und ein kräftiges Mädchen verkaufte unter einem steinernen Kruzifix Ziegenmilch. Thomas verbarg seine verkrüppelte Hand unter seinem Umhang, während er mit Keane durch Gassen und Sträßchen ging und an Hoftoren vorbei, hinter denen das Vieh brüllte. Die Kirchenglocken läuteten, riefen die Gläubigen zur Frühmesse. Thomas folgte dem Iren hügelabwärts, dorthin, wo die Straßen nicht mehr gepflastert waren und die festgetretenen Sandstraßen blutbefleckt. Hier wurde das Vieh geschlachtet, hier lebten die Armen der Stadt, und hier führte sie der Gestank nach Exkrementen auf einen kleinen Platz, auf dem drei Karren abgestellt worden waren. Vor jeden Karren waren zwei Ochsen geschirrt, und auf den Ladeflächen standen dickbäuchige Fässer. «Meiner Treu, der Unrat der Reichen stinkt gewaltig», sagte Keane.
«Wo sind die Fuhrmänner?»
«Sie trinken in der
Witwe
», Keane deutete auf eine kleine Schänke, «die Witwe ist eine zähe alte Vettel, der
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