1381 - Wanderer zwischen den Welten
oft bei ihren Feinden erlebt.
Sie dachte an den Anruf bei Justine, der so etwas wie ein Hilfeschrei gewesen war. Es war zu spät gewesen. Selbst eine Justine Cavallo konnte nicht fliegen.
»Du bist wehrlos«, flüsterte Cynthia, »und genau das finde ich wunderbar…«
***
Doch Justine war unterwegs!
Nur bewegte sie sich auf fremdem Terrain. Sie hatte die Klinik noch nie von innen gesehen.
Jetzt huschte sie so lautlos wie möglich die Treppe hoch.
Auf halber Strecke blieb sie stehen. Überall roch sie Menschen. Sie lagen in den verschiedenen Räumen. Sie waren für sie Nahrung, denn in jedem Körper zirkulierte das Blut.
Ein unwahrscheinlicher Hunger überkam sie, und sie fragte sich, wie lange sie das jetzt aushalten konnte. Irgendwann war es auch mit ihrer Beherrschung vorbei.
Am Geländer klammerte sich die blonde Bestie fest. Sie hatte den Kopf nach vorn gedrückt, und aus ihrem Mund drang ein Stöhnen.
Zu Atmen brauchte sie nicht, aber das Gefühl der Gier war einfach da, und es fiel ihr alles andere als leicht, es zu unterdrücken.
Trotzdem musste sie weiter.
Die blonde Bestie zeigte eine ungeheuer starke Selbstdisziplin.
Das Ziel lag jetzt dicht vor ihr. Jane Collins zu Hilfe zu eilen war wichtig, und mit zwei Sprüngen hatte sie auch den Rest der Stufen hinter sich gelassen.
Stille empfing sie. Selbst in einer Klinik gibt es Zeiten, da der Trubel und die Hektik zur Ruhe kommen. Aber es war auch niemand vorhanden, der ihr den richtigen Weg gezeigt hätte. Da musste sie sich schon auf ihr Gespür verlassen.
Sie bewegte sich durch einen langen Gang. Es waren auch die einzelnen Zimmertüren vorhanden. Hinter jeder konnte Jane Collins liegen. Justine würde alle Zimmer durchsehen müssen und hoffte auf ihr Glück, bei den ersten fündig zu werden.
Im schwachen Licht einer Notbeleuchtung lag der Flur vor ihr.
Nächtliche Ruhe, die ihr zugleich trügerisch vorkam. Gewisse Sinne waren bei ihr sehr ausgeprägt. So besaß sie einen Sensor für Gefahren, und sie konnte sich gut vorstellen, dass in ihrer Nähe ein Gefahr lauerte.
Unruhig bewegten sich ihre Augen. Ihr Gehör war sehr scharf. Etwas hatte sich auf den Weg gemacht, dem sie nicht ausweichen konnte. Es war nahe, zum Greifen nahe sogar, und sie würde in den folgenden Sekunden damit konfrontiert werden.
Die blonde Bestie nahm eine noch gespanntere Haltung an. Den Durst nach frischem Blut hatte sie vergessen, denn sie glich jetzt einer auf Abruf eingestellten Kampfmaschine.
Es musste zu einer schnellen Entscheidung kommen, und es kam zu einer Entscheidung.
Plötzlich öffnete sich rechts von ihr eine Tür. Sofort zuckte ihr Kopf herum. Sie sah den Mann aus dem Zimmer treten, der sie allerdings noch nicht entdeckt hatte, weil er wohl in Gedanken war und zu Boden schaute. Er trug einen weißen Kittel, der ihn als Arzt auswies.
Auch in seinen Adern floss Blut, doch daran dachte Justine in diesem Augenblick nicht mehr, denn der Arzt hatte den Kopf erhoben und Justine entdeckt.
Es vergingen Sekunden, bis er begriff, was hier passiert war. In dieser Zeit veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er bekam große Augen, und auch der Mund öffnete sich.
Die Frage sprang Justine förmlich an. Nur war der Mann nicht in der Lage, sie zu stellen, denn die blonde Bestie reagierte schneller.
Sie sprang auf ihn zu und musste wirklich nur eine kurze Entfernung überwinden, um den Mann zu packen.
Da die Tür nach innen aufging, prallten beide dagegen und drückten sie noch weiter auf, sodass sie in das Zimmer hineinstolperten. Der Arzt war so überrascht, dass er nicht in der Lage war, auch nur einen leisen Schrei nach Hilfe auszustoßen. Er wurde in seinen Raum hineingedrängt und fühlte schließlich die Wand im Rücken. Dass seine Füße dabei nicht den Boden berührten, bekam er kaum mit, denn Justine hielt ihn locker fest, und ihr Gesicht befand sich in seiner Höhe.
»Wer bist du?«
»Professor Hellman.«
»Gut.«
Hellman bewegte seine Schultern. »Verdammt noch mal, was wollen Sie hier? Was soll der Überfall?«
»Wo ist Jane Collins?«
In Hellmans Kopf läuteten die Alarmsirenen. Er war Arzt. Er fühlte mit den Patienten, er trug die Verantwortung für sie, und er dachte nicht im Traum daran, dieser blondhaarigen Frau, deren Gebiss so schrecklich unnormal aussah, eine Antwort zu geben.
»Was wollen Sie von ihr?«
»Wo ist sie?«
Hellman quälte sich. Er sah die beiden spitzen Zähne und fragte sich, warum sich die Person so verkleidet
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