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14 - Roman

14 - Roman

Titel: 14 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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alarmiert er unverzüglich Noblès.
    Wir befinden uns nach wie vor in den ersten Wochen des Krieges, und das Flugzeug ist ein ganz neues Transportmittel, das noch nie für einen Militäreinsatz verwendet worden ist. Das Hotchkiss- MG ist zwar bereits montiert, jedoch nur zu Erprobungszwecken und ohne Munition, also nicht aktiviert: Der Gebrauch von Repetierwaffen in Flugzeugen ist von den Behörden noch nicht freigegeben, weniger ihres Gewichtes und ihres unsicheren Funktionierens wegen als aus Angst, der Feind könne sich davon inspirieren lassen und sie seinerseits einsetzen. Bis es so weit ist und aus Gründen der Vorsicht nehmen die Besatzungen trotzdem Gewehre oder Handfeuerwaffen mit an Bord, ohne ihre Vorgesetzten eigens darauf aufmerksam zu machen. Beim Anblick dieses Infanteriegewehrs und während Noblès die Farman im Zickzack steuert, um sie aus der gegnerischen Schusslinie zu bringen, wühlt Charles in einer Tasche seines Overalls und fördert eine kleine Savage-Pistole zutage, die eigens für die Luftfahrt mit einem Fangkorb aus Draht ausgerüstet ist, damit die Patronenhülsen nicht in den Propeller geraten.
    In den folgenden Minuten überfliegen die Aviatik und die Farman einander, kreuzen sich, weichen einander aus, nähern sich einander, bis sie sich fast berühren, lassen einander dabei nie aus den Augen und vollführen Manöver, aus denen sich die hauptsächlichen Kunstflugfiguren entwickeln werden – Looping, Rolle, Schraube, Humpty-Bump, Immelmann –, wobei beide Maschinen Täuschmanöver fliegen und zugleich den besten Schusswinkel suchen, um sich einen ballistischen Vorteil zu sichern. Auf seinem Sitz kauernd, hält Charles mit beiden Händen die Pistole gepackt, während der feindliche Beobachter unablässig seinen Gewehrlauf neu ausrichtet. Als Noblès plötzlich seine Maschine gen Himmel steuert, die Aviatik dicht auf ihren Fersen, gleitet diese unter ihn, um dann jäh umschwenkend aufzusteigen und zugleich die Farman ins Visier zu nehmen, auf der Charles jetzt unversehens von seinem Piloten verdeckt wird und nichts mehr tun kann. Und da wird ein einziger Schuss von dem Artilleriegewehr abgefeuert: Die Kugel durchquert zwölf Meter Luft in siebenhundert Metern Höhe mit tausend Metern pro Sekunde, um durch Noblès’ linkes Auge einzutreten und oberhalb seines Nackens hinter dem rechten Ohr wieder auszutreten, und die nun führerlose Farman hält nur noch kurz ihren Kurs, bevor sie sich immer stärker nach vorn neigt und Charles, mit weit aufgerissenen Augen, über Alfreds weggesackte Schulter hinweg, den Boden nahen sieht, auf dem er zerschellen wird, bei voller Geschwindigkeit und ohne andere Alternative als seinen unmittelbar bevorstehenden, unvermeidlichen Tod vor Augen, ohne den Hauch einer Hoffnung – den Boden, der an dieser Stelle von einer Ortschaft namens Jonchery-sur-Vesle eingenommen wird, einem hübschen Dorf der Region Champagne-Ardennes, dessen Bewohner sich die »Joncaviduliens« nennen.

8
    A ls es zu regnen anfing, verdoppelte sich das Gewicht des Tornisters geradezu, der Wind erhob sich, eine gebieterische Masse, derart kälteschwer, man wunderte sich, dass er sich überhaupt bewegen konnte: Klamme Kälte herrschte, als man die belgische Grenze erreichte, wo die Zöllner am Tage der Mobilmachung ein großes Feuer angezündet hatten, das sie seitdem nicht haben ausgehen lassen, und alle versuchten, sich zum Schlafen möglichst in dessen Nähe zusammenzukauern. Anthime beneidete diese Zöllner, ihr Leben, das er sich geruhsam vorstellte, ihren Posten, den er für sicher ansah, und dann erst ihre Lammfell-Schlafsäcke. Nachdem sie wieder aufgebrochen waren, beneidete er sie noch viel mehr, als er nach weiteren zwei Tagesmärschen die Kanonen hören konnte, immer näher, einen Basso continuo, begleitet von vereinzelten Schüssen, wohl Scharmützel zwischen Patrouillen.
    Kurz nach der Bekanntschaft mit dem Hall der Schüsse gerieten sie unvermittelt mitten in die Feuerlinie, in einem sanften Tal kurz hinter Maissin. Ab da mussten sie wohl oder übel mitspielen: Jetzt begriffen sie wirklich, dass sie kämpfen, sich zum ersten Mal in den Einsatz begeben mussten, doch bis zu den ersten Geschosseinschlägen ganz in seiner Nähe mochte Anthime es immer noch nicht so ganz glauben. Als er sich dann dazu gezwungen sah, wurde alles, was er trug, plötzlich sehr schwer: der Tornister, das Gewehr und sogar der Siegelring an seinem kleinen Finger, der auf einmal eine Tonne wog und

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