1410 - Mallmanns Blut-Bräute
Augenblicken ihr Herz sicherlich schneller geschlagen. Das war bei ihr nicht möglich, aber sie sah trotzdem das, was auch ein normaler Mensch gesehen hätte.
Vor ihr hing ein Mensch!
***
Der Junge hatte nicht vergessen, was ihm im Zug widerfahren war.
Diese seltsame Frau, die eigentlich nichts getan und nur dort gesessen hatte, konnte er nicht vergessen. Er dachte an seinen Spiegel, es war ein Hobby des Zwölfjährigen, andere Menschen im Spiegel zu beobachten, und in ihm hätte er ihr Gesicht sehen müssen.
Das war nicht so gewesen!
Wer war sie? Und – das fragte er sich auch – hatte sie eigentlich geatmet?
Linus Hill wusste es nicht so genau, aber die Sache mit dem Spiegel war schon erschreckend gewesen, und da jagten dann die abenteuerlichsten Gedanken durch seinen Kopf.
Linus Hill war ein Junge, der gern las. Und Gruselgeschichten gehörten zu seiner Lieblingslektüre. Er hatte nicht nur Harry Potter gelesen, sondern auch Romane von Autoren, die für sein Alter eigentlich nicht geeignet waren. Über die Mahnungen seiner Eltern und Lehrer bezüglich dieser Literatur hatte er sich hinweggesetzt, das taten irgendwie alle in seinem Alter.
Und so wusste er über finstere Mächte Bescheid, über Dämonen und alle möglichen Schwarzblütler. Er hatte sich auch schlau gemacht, wie man solche Geschöpfe ausfindig machen konnte. Vampire zum Beispiel warfen kein Spiegelbild.
Und genau das war bei der Frau im Zug der Fall, deshalb glaubte er, es mit einer Blutsaugerin zu tun zu haben.
Das Ergebnis hatte ihn geschockt und zugleich aufgeregt werden lassen.
Es war ihm heiß und kalt den Rücken hinaufgelaufen. Er hatte sich in sein kleines Zimmer verkrochen und mit seinen Eltern kaum gesprochen. Auch die Fragen seiner jüngeren Schwester hatte er ignoriert. Er wollte nur lesen und dabei in Ruhe gelassen werden, das hatte er seinen Eltern erzählt, die so etwas kannten.
Wichtig war für sie, dass sich ihr Sohn nicht irgendwelche Gewaltspiele reinzog, vor denen immer wieder in den Medien gewarnt wurde.
Das Zurückziehen ins Zimmer war eine Ausrede gewesen. Er wollte mehr über die fremde Frau wissen, und er hatte sie nach dem Aussteigen sogar beobachtet. Sie war nicht in den Ort gegangen, sondern in den Bahnhofs-Pub. Es konnte sein, dass sie dort auf jemand wartete, und genau das wollte der Junge herausfinden.
Er überlegte, ob er sich allein auf den Weg machen sollte. Zu zweit wäre ihm wohler gewesen, und so kam er auf die Idee, seinen Freund Elton anzurufen.
Da ihm die Eltern ein Handy verweigerten, musste Linus vom Festnetz aus telefonieren. Das Telefon stand im Flur, der nur matt erhellt wurde. Das Licht fiel dabei aus der offenen Wohnzimmertür.
Dahinter saßen seine Eltern und schauten in die Glotze. Seine drei Jahre jüngere Schwester durfte noch mitschauen, aber sie würde bald ins Bett gesteckt werden.
Es drangen genügend Geräusche in den Flur, die seine Stimme übertönten. Zudem hatte Linus Glück, denn Elton meldete sich.
»He, ich bin es.«
»Super. Was willst du?«
»Mit dir losziehen?«
»Was? Jetzt, wo es so neblig ist?«
»Ist doch spannend.«
Elton kannte seinen Freund und fragte: »Was willst du wirklich?«
»Na ja, ich will dir was zeigen.«
»Was denn?«
»Das sage ich dir später. Ich habe da nämlich etwas beobachten können. Astrein ist das nicht.«
»Und was hast du gesehen?«
»Das erzähle ich dir, wenn wir losziehen.«
»Geht nicht.«
»Warum das denn nicht?«
»Ich muss meinem Vater helfen, den Stall aufzuräumen. Heute Abend läuft da nichts.«
»Echt nicht?«
»Wenn ich es dir sage. Ich habe das immer rausziehen können, doch jetzt ist Schluss.«
Auch wenn es Linus nicht passte, er musste es akzeptieren. Es gab oft Tage, da hatten die Eltern mehr Macht.
»Dann gehe ich allein.«
»Wo willst du denn hin?«
»Ich bleibe in Tegryn.«
»Und?«
»Ich habe da eine Frau aus dem Zug steigen sehen, die mir komisch vorkam. Das heißt, ich habe sie sogar im Zuge schon gesehen, und da bin ich misstrauisch geworden.«
»Was hat sie denn gemacht?«
»Eigentlich nichts, aber – und das schwöre ich dir – sie hatte kein Spiegelbild.«
Elton war für einige Augenblicke still. Deshalb hörte Linus aus die Geräusche in Hintergrund und vernahm sehr deutlich die Stimme von Eltons Vater.
»Ich muss Schluss machen, Linus. Es geht jetzt in den Stall. Du kannst ja bei uns vorbeikommen.«
»Mal sehen.«
Der Junge legte auf. Er war enttäuscht, jedoch froh darüber,
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