1412 - Die Hellseherin
sein?«
Anna Lebrun zeigte sich nicht geschockt. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich tot bin?«
»Auch wir haben unsere Beziehungen.«
»Ja, das haben Sie!« Die Hellseherin lachte. »Manchmal ist es gut, wenn man tot ist und aus dem normalen Leben verschwindet. Um so mehr Ruhe zu haben.«
»Dann war Ihr Tod also eine Täuschung?«, fragte Harry.
»Man kann es so nennen.«
»Und Sie haben es nur getan, um in Ruhe arbeiten zu können? Oder steckt mehr dahinter?«
Anna Lebrun lächelte. »Man merkt Ihnen an, dass Sie Polizist sind. Gute Fragen.« Sie nickte. »Ja, es steckt mehr dahinter, denn auch ich habe Feinde und Neider. Und sie sind nicht ohne. Sie sind sogar sehr stark, und sie lenken mich oft von meinen eigentlichen Aufgaben ab. Deshalb ist es für mich wichtig, Verbündete zu bekommen. Sie verstehen?«
Harry nickte langsam. »Sie haben mir den Tipp mit dem Jungen nicht grundlos gegeben. Sie wollen mir jetzt die Rechnung präsentieren.«
»Nein, nicht so heftig. Das sehe ich etwas anders. Ich weiß, dass ich bedroht werde, weil ich mich zu weit vorgewagt habe. Ich bin einem Mächtigen in die Quere gekommen, und ich weiß, dass mich dieser Mächtige gern vernichten würde.«
»Davor haben Sie Angst?«, fragte Dagmar.
»Nicht direkt. Ich bin nur vorsichtig. Ich möchte deshalb, dass Sie in meiner Nähe bleiben. Mein Feind hat mir eine letzte Warnung zukommen lassen. Da ich sie nicht beachtet habe – wie alle anderen übrigens auch –, hat er sich entschlossen, mich aus dem Weg zu räumen. Sie aber sind mir etwas schuldig, und so habe ich dafür gesorgt, dass Sie den Weg zur mir fanden. So einfach ist das.«
»Wir sollen Sie beschützen.«
»Ja, Herr Stahl.«
Harry schaute Dagmar an, die nur den Kopf schüttelte. Ihr fehlten einfach die Worte.
»Dann sollen wir als Leibwächter bei Ihnen bleiben?«
»So hatte ich es mir gedacht. Es dauert übrigens nicht lange. Ich weiß, dass er schon in der Nähe lauert. Er sucht nur nach einer Möglichkeit, um zuschlagen zu können. Das kann am Abend sein, aber auch in der Nacht. Leider kann auch ich den Zeitpunkt nicht vorhersagen. Ich weiß nur, dass er nahe ist.«
»Toll!«, sagte Harry und schüttelte den Kopf. »Dürfen wir denn zumindest erfahren, um wen es sich handelt. Wer so mächtig ist, dass er selbst Ihnen Furcht einjagt?«
»Ja, das dürfen Sie. Das sollen Sie sogar. Es ist ein Mann, und er hört auf den Namen Saladin…«
***
Wir hatten den Waldfriedhof hinter uns gelassen, und Glenda hatte mich wie einen kleinen Jungen an die Hand genommen. Es konnte auch sein, dass sie eine gewisse Sicherheit brauchte.
Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass wir den Weg zu den Häusern nehmen würden, auf deren Dächer wir schauten, aber Glenda blieb genau an dem Abknick stehen.
Ich wartete einige Sekunden und fragte: »Warum gehst du nicht weiter? Was ist los?«
Sie ließ meine Hand los. »Ich weiß es selbst nicht, John. Tut mir Leid, ich kann mich nicht entscheiden.«
»Warum nicht?«
Sie deutet mit dem Zeigefinger gegen ihren Kopf. »Etwas stört mich. Ein Hinweis oder eine Warnung. Ich weiß sehr genau, das ich es mir nicht einbilde.«
»Kannst du das genauer erklären?«
»Ich will es versuchen«, sagte sie leise. »Ich glaube, dass sich hin der Nähe eine unbekannte und trotzdem bekannte Kraft befindet. Das spüre ich in meinem Kopf, denn sie hat es geschafft, Kontakt mit mir aufzunehmen.«
»Ja, verstehe. Du meinst, dass du Anna Lebrun…«
»Nicht nur sie, John.«
»Wer noch?«
»Durch was sind wir denn überhaupt erst in diese Lage geraten. Wer hat da im Hintergrund seine Fäden gezogen?«
»Saladin!«
»Erfasst.«
Ich musste zunächst mal meine Gedanken ordnen. »Du meinst, dass sich Saladin in der Nähe aufhält?«
»Davon gehe ich aus.«
»Aber warum?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Aber irgendwie passt doch alles zusammen.«
»Okay, ich glaube dir. Wenn es so ist, kannst du mir dann sagen, wo er sich aufhält?«
»Nicht genau. Aber es gibt Strömungen, denen müssen wir nachgehen. Dann werden wir auch zu ihm kommen.«
»Und was ist mir Anna Lebrun? Wir wollten doch nach ihr fragen.«
»Sie ist nahe, John, sehr nahe. Und sie hat auch mit Saladin zu tun, das spüre ich. Es kann sein, dass sie und er eine Einheit bilden. Er hat wieder jemanden gefunden.«
»Okay, dann werden wir den Ort da unten nicht aufsuchen, oder?«
»Das ist mir sehr recht.«
Ich sah ihr an, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte, und richtete mich
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