1412 - Die Hellseherin
hinten gekämmt. Im Nacken war es dann zu einem Knoten zusammengebunden. Handschuhe bedeckten ihre Hände, und sie trug einen grauen Kittel.
»Guten Tag«, grüßte Dagmar. »Ja, Sie haben sich nicht verhört. Wir sind tatsächlich auf der Suche nach Anna Lebrun.«
»Ha, wie hätte es auch anders sein können!«
»Wieso? Was meinen Sie damit?«
»Jeder Fremde, der zu uns kommt, will zu ihr. Dieses Weibsstück scheint sehr begehrt zu sein.«
»Weibstück?«
»Ich könnte auch Hexe sagen. Wobei sie eigentlich längst hätte tot sein müssen.«
»Ach, wieso das denn?«
»Spielt keine Rolle.« Die Frau kam einen Schritt näher. »Ich möchte mich ja nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, aber geben Sie Acht, wenn Sie diese Person aufsuchen. Die ist verdammt gefährlich, das kann ich Ihnen sagen.«
»Gefährlich?«, fragte Harry.
»Ja. Sie passt nicht in diese Welt hier. Sie ist eine Außenseiterin, wenn Sie verstehen.«
»Aber sie bekommt doch oft Besuch.«
»Leider.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Von uns hier besucht sie keiner. Anna Lebrun wird gemieden. Sie ist eine, die mit dem Teufel im Bunde steht. Er hat ihr diese besondere Fähigkeit verliehen, durch die sie jetzt so bekannt geworden ist.«
»Als Hellseherin, nicht?«
Die Frau nickte Harry zu. »Genau das. Aber ich halte davon nichts. Man soll die Zukunft auf sich zukommen lassen und dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen. Das ist meine Meinung, aber jeder denkt eben anders darüber. Sie ebenfalls, sonst wären Sie ja nicht hier.«
»Ja, irgendwie schon. Wir haben von den großen Erfolgen dieser Hellseherin gehört und möchten mit ihr darüber reden.«
»Ach. Sie sind von der Zeitung?«
»Ja, Presse.«
Die Frau winkte mit beiden Händen ab. »Lassen Sie das lieber sein. Die Lebrun hat es nicht so gern, wenn man sie ausfragt. Da reagiert sie wie eine, die Dreck am Stecken hat. Sie will keine Öffentlichkeit. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der es schaffte, sie auszufragen. Sie hat einen Blick für Presseleute.«
»Das ist unser Risiko.«
»Sagen Sie später nicht, dass man sie nicht gewarnt hätte.«
»Keine Sorge. Wir müssen hin. Wo können wir sie finden?«
Die Frau deutete mit dem Daumen über ihre rechte Schulter. »Sie wohnt etwas außerhalb. Wer sie besucht, muss schon etwas steigen. Der Pfad beginnt hinter dem Haus.«
»Danke.«
»Und noch etwas: Denken Sie immer an den Teufel, wenn Sie die Lebrun sehen. Er hat sie schon immer in seinen Klauen gehalten. Man erzählt sich, dass der Pfarrer bei ihrer Taufe tödlich verunglückte.«
Harry wurde neugierig. »Und was ist da passiert?«
Die Frau winkte mit beiden Händen ab. »Das kann ich ihnen so genau nicht sagen. Es muss schlimm gewesen sein, sonst hätten die Menschen die Kirche nicht fluchtartig verlassen.«
»Aber hier ist das nichts passiert, oder?«
»Nein, nein, in Bad Camberg. Außerdem liegt es schon einige Jahrzehnte zurück. Aber es hat sich herumgesprochen, und die Älteren haben es nicht vergessen.«
»Danke für den Tipp. Ach ja, noch eine Frage: Wohnt die Hellseherin in einem normalen Haus oder…«
»Da, das ist schon normal. Ich bin noch nicht dort gewesen. Das heißt, ich werde mich davor hüten, das Haus zu betreten. Sie können es nicht verfehlen. Es steht einsam und ist aus Holz gebaut.«
»Danke. Das war alles.«
Die Frau hob einen Finger. »Aber geben Sie auf sich Acht. Die Lebrun ist gefährlich, auch wenn die meisten Menschen, die sie besuchen, es nicht wahrhaben wollen.«
»Danke, wir denken daran.«
Bis zum Omega waren es nur wenig Schritte. Beim Einsteigen fragte Dagmar. »Was hältst du von dem, was uns gesagt wurde?«
»Wir sollten es nicht vergessen.«
»Der Meinung bin ich auch. Nur hat dieser Clemens von Hohenstein anders gesprochen.«
»Sie ist eben nur Insidern bekannt, und die werden sich hüten, etwas Negatives über sie zu verbreiten.«
Beide stiegen ein. Sie hatten gesehen, dass der Weg auch für den Opel breit genug war. Das blieb auch so, als sie in Richtung des Hauses fuhren, einige Kurven nehmen mussten und dabei feststellten, dass auf dieser Höhe keine weiteren Häuser mehr standen. Die Menschen mieden die Nähe der Wahrsagerin.
Flankiert wurde der Weg von schief wachsenden Bäumen, die sich mit ihrem Wurzelwerk in den oft felsigen Boden gekrallt hatten. Es gab Schatten und Licht, und es gab das Ende des Wegs, der auf einer flachen Höhe endete.
Das Haus stand dort als einsamer Bau. Hinter ihm begann
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