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Visier. Zum Glück haben Speleos keine Platzangst. Unten im Spital Langnau wartete der Helikopter – morgens um sechs Uhr waren wir im Inselspital.»
Eveline Winterberger geht nicht freiwillig in eine Höhle, kommt aber als speleotaugliche Rega-Ärztin nicht darum herum. Der Eignungstest war hart. Höhlenretter nahmen sie mit. «Grässlich anstrengend», fand sie, immer auf Knien und Hintern. «Dann kam etwas wie ein Murmeltierloch. Ich konnte den Kopf nicht mehr drehen – und schob mich zurück. ‹Schiss?›, fragte mein Hintermann, hockte neben mich und schwieg. Nach einer halben Stunde fragte ich: ‹Was machen wir jetzt?› – ‹Warten. Warum hast du Angst?› – ‹Es ist mir zu eng.› – ‹Fünf Meter, dann wird es wieder weit. Bekommst du Platzangst, denk einfach: Ich liege zu Hause unter dem Bett und mach mal Pause. Vielleicht geht es so. Sonst warten wir.› – Es funktionierte. Der Begleiter meinte schliesslich: ‹Du weisst jetzt, was wir sagen, stimmt. Enger wird es nie.›»
Eveline Winterberger hat gelernt, mit der eigenen Angst umzugehen – oder Nein zu sagen. Wie vor drei Wochen beim Versuch, im Föhnsturm mit einem Helikopter Verletzte aus der Eigerwestwand zu holen. Der Pilot wollte die Ärztin in der Wand absetzen, überzeugt, es sei möglich. «Zu gefährlich», meinte sie. «Wir gehen immer wieder Risiken ein. Das Abwägen ist oft schwierig. Die Erfahrung jedes Crew-Mitglieds und das Entscheiden im Team helfen dabei. Zu denken, India, meine Tochter wäre, dort oben…» Sie ist erst sieben, die Rega findet sie «cool».
«Nehmt einen Bergführer mit», riet Eveline Winterberger, die «total Angst» vor Hunden hat, als ein Verstiegener mit Hund zu holen war. Der Pilot beruhigte: «Bleib an der Winde, damit ich dich wegziehen kann.» Da lag er, gross und wie tot. «Ein süsser Hund», funkte sie hinauf, «ich klinke mich aus.» «Nein», kam der Funkspruch, «manche Hunde reagieren böse, wenn an ihrem Meister rumhantiert wird.» Die Ärztin aber, das ausgetrocknete, hilflose Tier vor Augen, machte sich los, packte ihn ins «Gstältli» und befestigte Hund und Mann an der Winde.
Eine dramatische Premiere erlebte sie im Februar 2012. Die Häufung von Gleitschneerissen, sogenannten Fischmäulern, war aussergewöhnlich. Der Alarm kam per Funk: «Lungern-Schönbüel – Gletscherspalteneinsatz – sofort bereit machen!» Ein Missverständnis, dachte Eveline Winterberger. In Lungern-Schönbüel gibts keine Gletscher. Wohl ein Fischmaul-Unfall, meinte der Pilot, aber «Patient hängt im Fischmaul» könne man nicht sagen… «Es war so: drei Skifahrer, jeder in einem Fischmaul. Die Abrisse waren überschneit und imponierend wie Gletscherspalten. Zwei konnten rauskraxeln. Aus Angst, weiterzufahren, telefonierten sie um Hilfe. Der Pistenpatrouilleur fuhr hin, brach ebenfalls ein, funkte, er könne sich kaum mehr halten, unter ihm höre er einen Bach. «Wir funkten zurück: ‹Holen Sie raus.› Er: ‹Ich habe noch die Skier an den Füssen und bin wie ein Anker.› Ich bin mit der Winde runter in den Spalt, konnte die Skier lösen, band ihm eine ‹Brassière› um den Thorax, dienlich für Rettungen aus dem Wasser, für kurze Distanzen in geringer Höhe. Wir konnten rausfliegen. Der Mann spürte seine Beine nicht mehr, so lange hatte er ausharren müssen.»
Unvergesslich bleibt ihr ein anderer Wintereinsatz, die Suche nach einem Gleitschirmler am Feuerstein. «Eine wunderschöne Winternacht. Wir wollten schon aufgeben, als wir oben am Berg eine seltsame Linie entdeckten. Blut. Ich liess mich mit der Winde zum Gleitschirmflieger manövrieren. Er war tot. Die Kollegen funkten ein ‹Entschuldige, wir müssen tanken›. Da hockte ich neben dem toten Mann. Der Vollmond leuchtete. Das Tanken dauerte. ‹Nun›, sagte ich zu dem Unbekannten, ‹jetzt müssen wir halt reden miteinander.› Ob ich es ausgehalten hätte, fragten die Kollegen. ‹Ja›, meinte ich, ‹wir kennen uns jetzt gut.›»
In der Stadt Zürich aufgewachsen, verbrachte Eveline Winterberger jede freie Minute in den Bergen: Hochtouren, Skitouren, Klettern. Das ist bei ihrer Rega-Arbeit ein Vorteil. Seit zwanzig Jahren lebt sie in Meiringen, verheiratet mit einem Zimmerei-Unternehmer und Bergführer.
Ärztin wollte sie immer werden, fand aber das Studium zu lang. Der Kompromiss: Pharmazie. Nach sieben Semestern an der ETH konnte sie Apotheker vertreten. Irgendwann spielte die Zeit doch keine Rolle mehr. Sie studierte Medizin
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