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aufgewärmt, das war unangenehm. Nachher steh ich auf und geh raus und schau mir die Unfallstelle nochmals an, dachte ich. Ich bin zwischen acht und neun Stunden unter der Lawine gelegen und hatte noch eine Temperatur von 22 Grad. Ein grosser Dank an die Rega! In Deutschland wäre ich nachts nicht gerettet worden. Auch nicht in Österreich, Frankreich, Italien. Die Rega hingegen rückt mit ihren zweimotorigen Helikoptern auch nachts und bei fast jeder Witterung aus.
Karin Utz: Ich hatte lange zugewartet. Die beiden sind spät los, dachte ich, vielleicht gehen sie noch einkaufen in Savognin; mein Mann ist erfahren und vorsichtig, er kennt das Gebiet. Doch als ich ihn auf dem Handy zu erreichen versuchte, hat es einfach geklingelt. Ich rief den Hüttenwart vom Hospiz an, der dann die Rega alarmierte. Wohltuend war Marco Salis von der Rettungscrew. Nichts von «ihr dummen deutschen Touristen, geht leichtsinnig in die Berge, und ich muss euch retten».
Skitouren werde ich nie mehr machen können. Ich will auch nicht, dass David wieder auf Touren geht. Diesen Sport ebenfalls verloren zu haben, schmerzt. Es waren grossartige Erlebnisse. Der Garten ist mein Trost. Bei den Bergwanderungen bin ich die Langsamste, dafür sehe ich alle Blumen.
David: Die Rega flog mich anderntags von Samedan nach Zürich. Die Hand war angeschwollen wie ein Ballon. Nach der Operation lag ich sechs Wochen auf der Kinderstation. Am Anfang sah es gut aus, dann nicht mehr, die Finger waren schwarz, wie mumifiziert. Sie würden von selbst abfallen, sagte der Arzt bei der Entlassung. Und: «Du wirst trotzdem ein gutes Leben haben.»
Das ist so. Ich traf eine Freundin an einem Wochenende, das ich zu Hause verbringen durfte – und wir verliebten uns just in dieser schwierigen Zeit. In einem Jahr mache ich Matur. Obwohl mir schon vor dem Unfall zwei Monate Schule fehlten, weil ich in Kanada war, war es mein bestes Zeugnis. Ich wäre gern Mund-Kiefer-Gesichtschirurg geworden wie mein Vater, aber das wird schwierig. Vielleicht Sportmedizin.
Sechs Wochen nach dem Krankenhaus begann ich mit Joggen, nahm an einem Lauf teil und trat dem Leichtathletikverein bei. Ich trainiere Mittelstrecke, eine Zeitlang lief ich wöchentlich sechzig, siebzig Kilometer, jetzt kürzere und schnellere Strecken. Vor einem Wettkampf setze ich mir ein Ziel – das hat bis jetzt immer geklappt, obwohl ich die meisten Distanzen zum ersten Mal laufe und noch nicht richtig einschätzen kann. Letztes Wochenende lief ich 3000 Meter auf der Bahn – und gewann. Nächstes Wochenende nehme ich an einem Zehn-Kilometer-Volkslauf teil. Ich begann mit dem Training, als die Finger noch dran waren, ein Handchirurg musste sie mir dann doch abnehmen.
Skifahren? Ja, ja. Meine Freundin und ich organisierten auch einen Skiausflug in der Schule. Ich fragte im Sportgeschäft, ob sie eine Idee hätten. Jetzt kann ich den Stock an einem Handschuh mit Klettverschluss befestigen. Ich fühle mich nicht behindert. Mein Metalluhrenband kann ich problemlos öffnen. Vor kurzem jonglierte ich mit Bällen. «Das klappt aber nicht so gut», sagte ein Freund. «Hör mal», sagte ich… «Ach so», meinte er, ich hab gar nicht dran gedacht.»
David Utz, geboren 1994, lebt mit seiner Mutter Karin Utz, studierter Garten- und Landschaftsarchitektin, und zwei Schwestern in Villingen-Schwenningen am Rand des Mittleren Schwarzwaldes. Ihre Ferien verbringen sie regelmässig in Cunter bei Savognin.
Siehe Porträt Marco Salis
«Ich habe mein Leben wieder im Griff»
Alois Zgraggen, Verunfallter
Landwirt Alois Zgraggen verlor 2002 beide Arme in einer Rundballenpresse
«Ich hole Sie mit dem Auto am Bahnhof ab!» Mit dem Auto? Ohne Arme? Da steht er, Wisi Zgraggen, lacht spitzbübisch, steigt in den VW Passat – dreht mit dem Armstumpf am Radio und fährt, das Lenkrad unter den Füssen, rasant die schmale Strasse zur Bielenhofstatt. An der Haustür drückt er ein paar Tasten auf dem Code-Schloss. Telefoniert via Lautsprecheranlage, bedient den Computer per Mikrofon und Erkennungsprogramm. «Ich habe mein Leben wieder im Griff.»
Der Unfall passierte am 16. Oktober. Ein Föhntag. «Der letzte Tag, an dem ich mit der Maschine unterwegs war. Noch drei Ballen. Etwas klemmte, ich hantierte bei laufender Maschine, stolperte über einen Schuhbändel, fiel, geriet mit dem rechten Arm in den Schlitz für das Netz, konnte aufstehen, den Arm fast rausziehen, fiel erneut, war jetzt bis zur Schulter drin, hielt mit dem linken
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