1418 - Grabgesang der Geistermönche
Kreuz. Ihm gehörte es. Er war die Wiedergeburt des Erzengels. Daran gab es nichts zu rütteln. Er hatte lange nachgeforscht, nachdem er von ihm erfahren hatte. Mochte sich dieser Sinclair auch darauf berufen, in Wirklichkeit war er nicht der richtige Besitzer. Er hatte es lange genug besessen, nun brachen andere Zeiten an.
Noch bevor er die Kirche betrat, durchströmte ihn das Gefühl der Ehrfurcht.
Er wollte hinein, die anderen kamen heraus. Manche waren still, aber andere redeten wieder. Sie sprachen über ihren Durst, den sie in der Schwemme löschen wollten.
Abermals hätte er sie am liebsten angeschrien, doch er riss sich zusammen und ging seinen Weg. Er schob sich an ihnen vorbei – und zuckte zurück, als er sah, wie voll die kleine Kirche war, die einen düsteren Eindruck machte. Er sah auch das Licht der Kerzen, die ihm vorkamen, als wären sie die Seelen der Toten, die noch mal aufflackerten, um den Lebenden zu beweisen, dass sie noch vorhanden waren.
Es trieb ihn wieder zurück. Plötzlich mochte er den Ort nicht mehr. Er konnte den Grund nicht nennen. War er nicht würdig genug? Stieß ihn etwas ab?
Auf der Stelle kehrte er um und ging zurück ins Freie. Sein Gang hatte sich verändert – gebückt und leicht taumelnd. Dass er gegen Besucher stieß, nahm er kaum wahr. Er wollte nur einen Platz finden, an dem er für sich allein war.
Nur nicht hin zur Mauer, wo die Gaffer ins Tal schauten. Für ihn war es wichtig, in der Nähe des Klosters zu bleiben, und er sah die etwas höher stehende Bank mehr aus dem Augenwinkel, als dass er sie richtig wahrnahm. Nur zog er sofort die richtigen Schlüsse.
Er lief hin und setzte sich. Ruhe, nur Ruhe finden. Den Atem wieder kontrollieren. Alles andere würde sich ergeben, davon ging er aus. Er schaute hoch zur Klostermauer – und sah das, was er sich so gewünscht hatte.
Da war sie. Da stand sie. Die Statue des Heiligen Michael. Als hätte ihn ein Wink des Schicksals hergetrieben. Er konnte den Blick nicht von der Figur nehmen, die ihm so wunderschön und verklärt vorkam.
Michael mit dem Schwert!
Ja, ihm war das Kloster damals geweiht worden. Die frommen Mönche hatten genau gewusst, was sie taten, aber es gab auch welche, die sich nicht mehr an die heiligen Regeln gehalten hatten.
Sie hatten sich einem anderen Engel zugewandt, einem der in seiner Machtgier unersättlich war und auf den Namen Luzifer hörte.
Er stöhnte auf und ballte seine Hände. Michael und Luzifer. Sie waren die beiden großen Gegenspieler gewesen. Aber Michael hatte die Schlange vom Thron gestoßen und sie in die finstersten Schlünde der Hölle geschickt.
Erholt hatte sich dieser verfluchte Höllenengel davon nicht mehr.
Er war nicht in die Höhe gestiegen, um es noch mal zu versuchen.
Dafür hatte er sich aber andere Möglichkeiten ausgesucht.
Er war an die Menschen herangetreten, um sie mit seiner teuflischen Macht zu beglücken. Und die Menschen waren schwach. Nur die ganz Starken hatten sich ihm widersetzen können. Selbst unter den Gründern des Klosters hatte es welche gegeben, die den falschen Weg eingeschlagen hatten und deren Schatten noch heute über dem Kloster lag.
Sie hatten nicht begreifen können, dass es aus war, und sie hatten wieder versucht, sich Luzifer anzubieten. Sie waren weder im Himmel gelandet noch in der Hölle.
Es gab sie.
Er wusste das.
Sie hatten sich wieder gemeldet. Sie meldeten sich immer einmal im Jahr, um ihre Macht zu zeigen. Dann versuchten sie erneut, das Kloster in ihren Besitz zu bringen.
Bisher hatten sie es nicht geschafft. Ob die jetzt hier lebenden Mönche überhaupt von ihnen wussten, stand für Michael Meier nicht fest. Wenn ja, dann taten sie nichts dagegen und ignorierten die bösen Geister ihrer Feinde.
Sie würden kommen, das wusste er. Und er würde sich ihnen in den Weg stellen. Für ihn würde es der Urkampf sein. Geführt mit dem Schwert – und mit dem Kreuz!
Das war neu!
Er hatte sich die große Waffe geholt, und er würde sie nie wieder abgeben. Er würde sie mit seinem Leben verteidigen, und er würde dafür auch über Leichen gehen, das stand fest.
Während seine Gedanken Achterbahn gefahren waren, hatte er seinen Blick nicht von der Figur des Erzengels gelassen. Was andere Menschen nur flüchtig betrachteten, war für ihn ein Heiligtum. Er wünschte sich, dass die Figur zu ihm sprechen würde, um ihm Mut zu machen. Mit verklärtem Blick schaute er sie an. Er spürte nicht den Wind, der hier oben immer wehte,
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