1429 - Totenkopf-Ballade
ihr Geäst gegen den Himmel.
Gräser. Farne. Hohes Buschwerk. Niederwald. All das vereinigte sich auf diesem Friedhof. Die Grabsteine waren beim ersten Blick nicht zu sehen, weil die Natur sie überwuchert hatte.
Nachdem wir einen verrotteten Zaun hinter uns gelassen hatten, blieben wir stehen. Wir hatten die beiden Frauen in die Mitte genommen, und Jana sagte mit leiser Stimme: »Das ist er…«
Harry fragte: »Könnten Sie sich denken, wo das Grab dieser Malinka zu finden ist?«
Sie hob den rechten Arm. Dann streckte sie die Hand aus und schwenkte sie einige Male. »Ungefähr dort. Vielleicht da hinten, wo die Büsche noch dichter wachsen. Ich kann mir vorstellen, dass man sie so weit wie möglich weghaben wollte.«
Der Gedanke war nicht schlecht. Wir schauten alle hin und suchten nach einem Pfad. Den hatte es vielleicht mal gegeben, jetzt aber war alles zugewuchert.
Bunte Schmetterlinge tanzten durch die Luft. Insekten summten im Schatten der Blätter oder huschten als winzige Punkte vor unseren Augen entlang.
Es gab keine Kühle, die unsere Gesichter gestreift hätte. Es waren auch keine menschlichen Stimmen zu hören. Hier herrschte eine Stille, wie man sie nur auf einem Friedhof fand.
Ich ging als Erster los. Der Boden war weich. Er bot wenig Widerstand. Das Gras umschmeichelte meine Knie. Manchmal griffen mit Dornen besetzte Pflanzenstiele nach dem Stoff der Hose.
Die ersten Grabsteine sah ich, als ich mich unter den Ästen einer kleineren Trauerweide duckte. Auch hier sah ich kein Kreuz. Die Steine standen schief im Boden, als warteten sie auf den nächsten Windstoß, der sie umkippte.
Wir kämpften uns bis zum Ziel durch. Etwa bis zu dem Ort, wo Jana das Grab der Mörderin vermutete.
»Hier, denke ich, muss es irgendwo sein.«
»Dann schauen wir mal«, sagte Harry.
Er machte sich als Erster auf die Suche. Dabei bückte er sich und räumte Hindernisse aus dem Weg. Zwischen den hohen Gräsern entdeckte er die ersten Steine. Sie standen recht dicht beieinander und waren so niedrig, dass man sie kaum sah.
Er bückte sich. Manche Inschrift war noch zu entziffern.
»Soldatengräber«, meldete er.
»Dann liegt sie hier nicht«, sagte Jana leise.
»Suchen wir weiter.«
Ich hielt das Bild in der Hand, auf das ich ab und zu einen Blick warf. Es hatte sich im Laufe der Zeit einfach zu viel verändert. Die alte Aufnahme gab nicht den gegenwärtigen Zustand wieder, und so mussten wir schon ein wenig Fantasie einsetzen, um das Grab zu finden.
Dagmar Hansen und Jana suchten in einer anderen Richtung. Es war besser so, wenn wir uns teilten.
Wir mussten sehr darauf achten, nicht über die versteckten Steine zu stolpern. Zu viele waren überwuchert, und als ich mal nicht aufpasste, stieß ich mit dem linken Fuß gegen ein Hindernis.
Ein leiser Fluch drang über meine Lippen. Tränen schossen mir zwar keine in die Augen, aber diesen Schmerz hätte ich mir gern erspart.
Harry Stahl hatte mein Pech mitbekommen und grinste nur.
»Geh weiter!«, motzte ich ihn an.
Er ging nicht. Ich ging auch nicht, denn die Stimme seiner Freundin stoppte uns.
»Ich glaube, wir haben es gefunden!«
Harry und ich drehten uns um. Wir sahen den winkenden Arm.
Dagmar stand dort, wo einige Nadelbäume aus dem Erdboden ragten. Auf dem Bild waren sie nicht zu sehen gewesen.
Jana stand neben Dagmar. Sie schaute in eine andere Richtung, und dorthin blickten wir auch.
Dort befand sich ein Hügel. Er sah aus wie ein Wulst aus Pflanzen.
Da hatten sich Efeu und Dornenzweige miteinander vermischt und eine dichte Schicht gebildet.
Dagmar hatte schon einiges weggerissen, um sich die nötige Sicht zu verschaffen. Jetzt blutete sie an den Fingern und leckte das Blut immer wieder ab.
Sie drehte den Kopf nach rechts. »Das ist es wohl.«
»Hast du die Schrift erkannt?«
»Nein, das habe ich nicht. Der Form nach allerdings könnte es schon stimmen.«
»Okay, dann schauen wir mal nach.«
»Passt nur auf. Die Dornen sind verdammt tückisch.«
»Kein Problem.«
Harry und ich machten uns an die Arbeit. Die Frauen schauten zu.
Jana hielt dabei die Hände wie zum Gebet gefaltet. Sie sah zwar nach vorn, aber ihr Blick war mehr ins Leere gerichtet.
Die Natur kann zäh sein. Das merkten wir in diesem Fall besonders. Trotzdem schafften wir es, eine Lücke in das Gestrüpp zu reißen, und hatten Glück, genau die Stelle zu erwischen, die wir wollten.
Buchstaben waren zu sehen.
Nicht alle. Da fehlte das N und das A. Der Rest reichte uns
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