143 - Das Böse wohnt in Harkerville
begab mich zu meinem Rover und hoffte, daß mir Vicky doch noch eine Nachricht unter den Scheibenwischer geklemmt hatte - aber nichts.
Ich schloß auf, warf die Tennistasche auf die Rücksitze und stieg ein.
Ich fuhr nicht sehr konzentriert. Immer wieder mußte ich an das geheimnisvolle Verschwinden meiner Freundin denken. Es war viel Verkehr. Ich fuhr langsam, rollte in einer langen Autoschlange mit. Alle benahmen sich heute so merkwürdig. Nicht nur Vicky, auch die Calloways.
Noch nie hatten sie sich die Zeit genommen, sich ans Fenster zu stellen und uns beim Spielen zuzusehen. Fast hatte es den Anschein gehabt, als würden sie auf etwas warten.
Und später, in der Kantine, hatten sie merkwürdige Blicke getauscht. Cab Calloway schien auf ein bestimmtes Signal gewartet zu haben. Nachdem es ihm Virginia gegeben hatte, hatte er sich entspannt.
Je länger ich nachdachte, desto weniger konnte ich glauben, daß mir die Calloways die Wahrheit gesagt hatten. Den Grund für ihr Täuschungsmanöver kannte ich nicht - noch nicht.
Er würde sich herausfinden lassen.
Ich fuhr nicht weiter nach Hause, sondern wendete und nahm wieder Kurs auf das ABC Tennis Center.
***
Das Nest hieß Harkerville und befand sich zwei Autostunden in westlicher Richtung von London entfernt. In Harkerville gingen die Uhren angeblich anders.
Kein Mensch wäre auf die verrückte Idee gekommen, hier Urlaub zu machen. Ein Kirchturm, ein paar Häuser darum herum, ein Gasthaus, in dem ab und zu Reisende abstiegen… Das war Harkerville.
Dennoch war es kein gewöhnlicher Ort.
Harkerville hatte ein blutiges Geheimnis, doch davon wußten Tom Jagger und Dean Courtway nichts, als sie den verfluchten Ort erreichten.
Jagger und Courtway waren Landstreicher. In der warmen Jahreszeit ging es ihnen ja gut, da wollten sie mit niemandem tauschen, aber wenn die Tage kürzer und die Nächte länger und kälter wurden, beneideten sie jene, die hinter einem warmen Ofen saßen.
Regen hing über Harkerville. Noch kam er nicht herunter, aber das würde nicht mehr allzu lange dauern.
Jagger und Courtway kannten die Zeichen der Natur. Sie wußten sie richtig zu deuten, brauchten keinen amtlichen Wetterbericht.
Sie befragten einfach ihre Knochen, und die gaben ihnen zuverlässig Auskunft.
Noch zigeunerten Jagger und Courtway durch die Lande. Sobald der Wind eisig zu werden begann, mußten sie sich um ein geheiztes Winterquartier bemühen.
Ihrer Ansicht nach war man nirgendwo besser untergebracht als in einer Gefängniszelle. Sie kannten die Gesetze für den Hausgebrauch und wußten, welche Strafen ein Delikt einbrachte.
Ende des Monats würden sie wieder etwas ausfressen, aber sie würden sich nicht die Mühe machen, davonzulaufen. Schließlich wollten sie ja erwischt werden.
Wenn sie es der Polizei zu schwer machten, entkamen sie ihr unter Umständen, und das war nicht der Sinn der Sache. Eine geheizte Zelle, drei warme Mahlzeiten am Tag - danach strebten sie.
Und wenn es draußen Frühling wurde, wenn die Vögel anfingen zu zwitschern, wenn alles grünte und blühte, öffnete sich für sie das Gefängnistor, und man entließ sie mit guten Ratschlägen, die sie höchstens neun Monate lang beherzigten.
Danach wurden sie rückfällig, weil ja wieder ein Winter vor der Tür stand, den es zu überbrücken galt. So lebten Jagger und Courtway schon seit Jahren.
Früher waren sie allein unterwegs gewesen. Vor vier Jahren hatten sie sich in einem »Winterquartier« kennengelernt, und als man sie entlassen hatte, waren sie zusammengeblieben.
Sie waren ein Herz und eine Seele, wie Brüder fast. Bettelnd zogen sie von Dorf zu Dorf. Sie schliefen in Scheunen oder leerstehenden Häusern, unter Strohballen oder unter freiem Himmel, wie es sich ergab.
Beide waren bärtig und verwahrlost, zerlumpt gekleidet und anspruchslos. Jagger hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich. Als ihn seine Frau wegen eines Vertreters verließ, warf ihn das so sehr aus der Bahn, daß er nie mehr Tritt fassen konnte.
Courtway war zu oft betrunken gewesen, deshalb hatten ihn alle Firmen wie eine heiße Kartoffel fallenlassen, und er war plötzlich mit einer Freiheit konfrontiert gewesen, mit der er zunächst nichts anzufangen wußte.
Doch allmählich hatte er sich daran gewöhnt, und er hatte gelernt, zu leben, ohne sich dafür abrackern zu müssen Es funktionierte recht gut.
Sie kamen immer irgendwie über die Runden, hatten zu rauchen, zu trinken, und es fanden sich auch immer wieder
Weitere Kostenlose Bücher