143 - Das Böse wohnt in Harkerville
trüben Schleier, der aber allmählich aufriß. Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust.
Es sah aus, als würde sie eine Siegerpose einnehmen. Vicky musterte sie ungläubig. »Das kann doch nicht sein, Virginia. Haben Sie mich tatsächlich niedergeschlagen?«
»Ja, das war ich ganz allein«, sagte die Frau höhnisch.
»Aber warum? Was habe ich Ihnen getan?«
»Nichts.«
»Ich verstehe nicht…«
»Sie brauchen nichts zu verstehen«, fiel ihr Virginia schneidend ins Wort.
»Sie müssen übergeschnappt sein. Binden Sie mich sofort los!« verlangte Vicky. »Wenn Ihr Mann davon erfährt…«
»Es geschah mit Cabs Einverständnis.«
»Ja, seid ihr denn beide verrückt geworden?«
Virginia Calloway trat vor und schlug mit dem Handrücken zu. Vicky Bonney wäre beinahe mit dem Stuhl umgefallen. »Wir wissen, was wir tun!« fauchte die Frau. »Alles ist Teil eines großen Plans.«
»Wessen Plans?« wollte Vicky wissen. Der süßliche Geschmack von Blut befand sich in ihrem Mund.
»Das werden Sie noch früh genug erfahren«, antwortete Virginia und ging.
***
Virginia war im Augenblick nicht da. Cab Calloway bediente mich. Ich trug meinen weißen Frotteemantel und fragte Calloway: »Trinken Sie etwas mit, Cab? Egal, was.«
Er lehnte meine Einladung dankend ab, stellte das Kräuterbier auf den Tisch und setzte sich zu mir. »Vicky war gut«, sagte er.
»O ja, Sie haben ihr ein paar undurchschaubare Tricks beigebracht. Als ich mich darauf eingestellt hatte, lag sie bereits in Führung und war nicht mehr einzuholen. Besser ging’s erst im zweiten Satz.«
Ich schielte nach dem Bier, wollte aber erst davon trinken, wenn Vicky hier war. Nahezu alle Tische waren besetzt, und in der Halle gab es keinen einzigen freien Platz.
»Zufriedenstellender Saisonauftakt«, sagte ich.
»Wir können nicht klagen. Im Sommer ist es ein bißchen zäh, weil die Leute da lieber im Freien spielen, aber sobald es kalt wird, sind wir ausgebucht.«
Ich schaute an ihm vorbei auf die große elektrische Wanduhr. Vicky war überfällig. Wo blieb sie so lange? Virginia erschien. Ich war nicht sicher, aber ich glaubte, daß sie aus der Damengarderobe kam.
Sah Cab Calloway seine Frau fragend an? Nickte sie kaum merklich? War er danach erleichtert? Oder bildete ich mir das nur ein?
»Ist Vicky noch in der Garderobe?« fragte ich. »Was tut sie denn so lange dort drinnen?«
»Vicky ist nicht mehr hier«, sagte die Frau.
»Das gibt’s doch nicht.«
»Es kam ein Anruf für sie. Ich holte sie ans Telefon. Danach hatte sie es sehr eilig, fortzukommen.«
Ich konnte das nicht glauben. So handelte doch Vicky nicht. »Wer hat angerufen?« wollte ich wissen. »Ein Mann oder eine Frau?«
»Ein Mann, aber er nannte keinen Namen.«
»Und Vicky hat keine Nachricht für mich hinterlassen?«
Sie sagte: »Bestellen Sie Tony, daß wir uns zu Hause sehen!« Dann war sie draußen.
Das war nicht Vickys Art. Aber warum sollte mir Virginia Calloway die Unwahrheit erzählen? Vicky war mit mir hierhergekommen. Sie hatte ihren Wagen zu Hause gelassen.
Ein Taxi hatte sie nicht bestellt, wie ich von Virginia Calloway erfuhr. Und sie hatte es nicht der Mühe wert gefunden, mir eine Nachricht zu hinterlassen, die mich beruhigte.
Was konnte der Grund für ihren fluchtartigen Aufbruch gewesen sein? Weshalb war sie Hals über Kopf davongerannt? Ich schaute die Calloways beunruhigt an.
»Machen Sie sich um Vicky keine Sorgen, Tony«, sagte Cab. »Sie ist ein sehr selbständiges Mädchen, das nicht so leicht in Schwierigkeiten gerät.«
»Sie hat sich noch nie so merkwürdig verhalten«, sagte ich.
»Sie wird Ihnen sicher alles erklären, wenn sie heimkommt«, sagte Cab Calloway. »Vielleicht sollten Sie jetzt nach Hause fahren und da auf sie warten.«
Ich erhob mich, und die Calloways lächelten mich aufmunternd an. Ich hatte keinen Durst mehr, ließ das Bier unbeachtet stehen. »Entschuldigt mich«, sagte ich zu dem Ehepaar und eilte in die Garderobe, um mich anzuziehen.
In meinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Irgend etwas stimmte nicht, aber mir fehlte der Durchblick. Was war faul an der Sache?
Als ich die Garderobe verließ, stand Virginia wieder hinter dem Tresen. Sie bereitete für einen der Gäste einen Salatteller, goß French Dressing drüber. Cab Calloway befand sich in der Boutique und verkaufte Tennisbälle.
Er warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, dann war ich draußen. Feuchtkalte Luft schlang sich unangenehm um meinen Hals. Ich
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