143 - Die Höllenfahrt des Geisterzugs
enttäuscht auf, als er sich so unvermittelt um die sichere Beute betrogen sah, begann sich wie toll zu gebärden und an der Kette zu zerren.
„Er zerreißt uns, wenn er uns erwischt", gab Burian zu bedenken.
„Ich glaube nicht." Coco wischte sich die Hände an ihrer eng sitzenden Hose ab und ging vor Burian her zur Vorderseite der Hütte zurück. „Seltsam", raunte sie. „Das Bellen sollte den Besitzer längst aufgeschreckt haben." Vergeblich versuchte sie, durch die Butzenscheiben ins Innere zu blicken. Abgesehen davon, daß das Glas voller Schlieren war, hatte es vermutlich seit Jahren kein Wasser mehr gesehen. Wäre nicht der flackernde Lichtschein gewesen, man hätte glauben können, vor einem unbewohnten, abbruchreifen Gebäude zu stehen.
Allmählich verklang das Knurren des Hundes. Coco klopfte an die Scheibe, aber nichts rührte sich. „Gehen wir einfach hinein", schlug Burian vor. „Der Besitzer wird wohl nichts dagegen haben."
Knarrend schwang die Tür auf. Der enge, muffige Flur dahinter lag in völliger Finsternis. Coco ließ den Lichtstrahl der Lampe über die Wände wandern. Spinnen und Tausendfüßler hatten sich zu Dutzenden in dem brüchigen Mauerwerk eingenistet. Der Boden, dessen ehemaliger Holzbelag nur stellenweise noch durchschimmerte, war dreckverkrustet. Sogar Gras begann in manchen Ritzen schon zu sprießen. Stumm deutete die Hexe auf die großen Abdrücke scharfklauiger Pranken, die sich in dem Schmutz deutlich abzeichneten.
„Hallo!" rief Burian. „Ist hier wer?"
Nur das Bellen des Hundes, das in ein langgezogenes Heulen überging, antwortete ihm.
Der Gang führte in zwei Zimmer, die eigentlich eher die Bezeichnung Kammern verdienten. Coco betrat den Raum, in dem das Licht brannte. Mit einem ersten raschen Blick erfaßte sie, daß niemand da war.
Links erhob sich ein gemauerter Ofen mit einer roh aus Brettern zusammengenagelten Bank, daran anschließend ein uralter, zerkratzter Schrank. Gegenüber hing ein Tellerbord an der Wand; darunter, auf einem Hocker, stand eine halb gefüllte Waschschüssel und daneben ein blecherner, verbeulter Wasserkrug.
Die Mitte des Raumes nahmen ein klobiger, ebenfalls schmutziger Tisch und vier Stühle ein. In einer Schüssel befanden sich noch Essensreste.
„Hammelkeule", stellte Burian fest. „Hier lebt es sich offenbar recht gut." .
„Vermutlich hat der Besitzer dieses Traumhauses jeden Tag nur Schaffleisch zu essen", gab Coco spöttisch zurück. Sie betrachtete die Tropfkerze, die in einer dickbauchigen Rotweinflasche steckte. Viel Wachs war noch nicht heruntergelaufen, was annehmen ließ, daß, sie erst vor kurzem angezündet worden war.
„Weit kann der oder die Unbekannte nicht sein", sagte Burian und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Uns bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als hier zu warten."
„Hörst du?" Coco lauschte. Für einen flüchtigen Moment hatte sie geglaubt, Schritte zu hören, als schleiche jemand ums Haus. Doch jetzt war es wieder still. Nur aus weiter Ferne erklang Gebell, in das der Kettenhund schließlich lautstark einstimmte.
Coco zuckte jäh zusammen, blickte suchend um sich. Einen Augenblick lang war ihr gewesen, als könne sie etwas Böses wahrnehmen, das in der Nähe lauerte.
„Was ist?" wollte Burian wissen.
Das Bellen erklang aus verschiedenen Richtungen und hallte schaurig durch das einsam gelegene Tal.
„Die Zeit kommt, da sie auf die Jagd gehen", sagte Coco leise, als fürchte sie plötzlich, durch zu laute Worte die nächtlichen Räuber anzulocken. „Das klingt, als würde ein Leittier sein Rudel rufen."
„Du läßt dich durch das Echo täuschen", winkte Burian ab. „Vergiß nicht das Tal und die hohen Berge ringsum."
Die Hexe bedachte ihn mit einem überaus skeptischen Blick. „Was ist mit dir los?" wollte sie wissen. „Die Geschehnisse in Garmisch haben dich offenbar verändert. Dabei solltest gerade du vorsichtiger geworden sein."
Weiter kam sie nicht. Da war wieder das Geräusch schleichender Schritte. Und von der Haustür her ertönte ein durch Mark und Bein gehendes Fauchen.
Der Nebel suchte sein nächstes Opfer. Tentakelähnliche dünne Auswüchse formten sich aus dem wogenden Dunst und richteten sich zielstrebig auf die beiden Männer. Rückwärts gehend, ergriff nun auch der Schaffner das Hasenpanier. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Was er unablässig vor sich hin murmelte, verstand niemand, doch es klang wie ein Gebet. Unmittelbar hinter ihm kroch die
Weitere Kostenlose Bücher