143 - Die Höllenfahrt des Geisterzugs
ihnen.
„Ich könnte uns beide in einen schnelleren Zeitablauf versetzen", überlegte Coco. „Die Frage ist nur, wie weit wir laufen müßten, um vor den Wölfen Ruhe zu haben."
„Hilf mir lieber, den Schrank vors Fenster zu rücken", sagte Burian. „Die Nebenräume und die Haustür müssen wir ebenfalls verbarrikadieren."
Gemeinsam zerrten sie das Möbelstück vor die Butzenscheiben. Es war schwerer als angenommen und hinterließ auf den Dielenbrettern deutliche Schleifspuren.
„Den Tisch vor die Tür", bestimmte Burian.
Draußen stimmten die Werwölfe ein gereiztes Knurren an. Spürten sie, daß ihre vermeintlichen Opfer ihnen zu entkommen drohten?
„Schnell!" stieß Wagner dann hervor. „Den anderen Raum."
Plötzlich taumelte Coco. Ihr Gesicht verzerrte sich, nahm einen überraschten Ausdruck an, als sie an der Wand Halt suchte. Sie zitterte, rang krampfhaft nach Luft. Schweiß trat auf ihre Stirn.
Gleich darauf hatte die Hexe sich wieder unter Kontrolle. „Starke schwarzmagische Kräfte umschließen das Haus", stöhnte sie. „Ich wollte die Zeit für uns beschleunigen, aber etwas hindert mich daran."
Im Nebenraum splitterte Glas. Das Wolfsgeheul wurde lauter. „Verdammt!" stieß Burian hervor und riß die Tür sofort wieder zu, die er eben hatte öffnen wollen. „Wir sitzen in der Falle." Das Poltern und Rumoren zeigte an, daß einige Werwölfe ins Haus kamen.
Gehetzt blickte Wagner um sich. Das Haus besaß keinen Dachboden, auf den man sich mehr recht als schlecht hätte zurückziehen können. Allerdings entdeckte er am Ende des Flures eine schmale, eisenbeschlagene Falltür.
„Dort hinunter!" stieß er Coco an. „Uns bleibt keine andere Wahl."
Burian hatte Mühe, die schwere Tür aufzuwuchten. Doch das konnte ihm nur recht sein, weil die Werwölfe dadurch kaum Gelegenheit erhielten, ihnen erneut zu folgen. Enge, in roten Lehm geschnittene und glitschige Stufen führten in eine unergründliche Finsternis. Nur flüchtig schickte Burian den Lichtstrahl aus der Stablampe in die Tiefe. Ihnen blieb kaum noch Zeit. Die Verfolger rüttelten bereits an der Tür und würden sie wahrscheinlich aus den Angeln reißen.
Wortlos zwängte Coco sich durch die Öffnung. Burian folgte ihr auf dem Fuß und ließ die Luke zufallen, kaum daß er weit genug unten war.
In etlichen Windungen führten die Stufen steil in die Tiefe. Das war kein Keller, wie zuerst zu vermuten gewesen, das sah eher nach einem stillgelegten' Brunnenschacht aus.
Für eine Weile verharrte Coco fast andächtig. „Hörst du?" raunte sie. Über ihnen verstummte das Rumoren der Werwölfe allmählich.
Trotzdem wäre es verkehrt gewesen, zu verharren oder gar umzukehren. Nach der 66. Stufe endete der Schacht unvermittelt. Abgesehen davon, daß der Boden zentimeterhoch mit zähem Schlamm bedeckt war, herrschte eine unangenehme Kühle. Der eigene Atem stand einem als feiner Dunst vor dem Gesicht und verflüchtigte sich nur zögernd. Wasser tropfte die Wände herab, und von irgendwo erklang das Rascheln vieler winziger Füße.
Ein waagerechter Stollen schloß sich an.
Burian stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Ein alter Geheimgang", stellte er fest. „Falls nicht irgendwo die Decke heruntergebrochen ist, haben wir vielleicht eine Chance, die Werwölfe zu umgehen."
„Oder wir laufen ihnen in die Fänge", gab Coco zu bedenken. „Wo mag der Gang enden? Einen Kilometer entfernt, oder gar zwei?"
„Wir können auch die Hände in den Schoß legen und warten, ob die Wölfe uns vor dem Morgen entdecken."
„Du weißt genau, daß mich das Unbekannte reizt", widersprach die Hexe heftig.
Kamen sie anfangs noch in gebückter Haltung recht gut vorwärts, waren sie schon nach einer Weile gezwungen, sich kriechend zu bewegen. Eine Steinplatte in der Decke hatte sich gesenkt und zusätzlich Erdrutsche ausgelöst. Die Luft wurde stickiger. Ratten flohen quietschend vor den Eindringlingen und der grellen Helligkeit, die sie verbreiteten.
Welche Strecke Coco und Burian Wagner unter diesen Bedingungen zurücklegten, vermochten sie nur schwer zu schätzen. Zwei Stunden waren jedenfalls vergangen, als die Hexe auf einen bleichen Reflex am Rand des Lichtkegels aufmerksam wurde. Nachdem sie eine dünne Erdschicht beiseitegeräumt hatte, stieß sie auf ein nahezu unversehrtes Skelett, dessen Schädel den Eindruck erweckte, als grinse er. Außer einigen Fetzen ausgebleichten, groben Leinens, die keinerlei Rückschlüsse zuließen, fand Coco dann
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