1433 - Der Engel, die Witwe und der Teufel
weiß es auch nicht, aber ich spüre Leben in ihm.«
»Leben?«, wiederholte ich.
»Ja, da ist so ein seltsames Kribbeln. Es geht mir durch die Finger bis hinein in die Handgelenke…«
»Haben Sie Angst?«
»Nein. Es ist nur so seltsam, wenn Sie verstehen. So ganz anders geworden…«
»Bleiben Sie auf dem Grab, Mrs Finley. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich nicht zu fürchten brauchen. Genau kann ich Ihnen nicht sagen, was passiert ist, aber es kann sein, dass durch das Kreuz der Kontakt hergestellt wurde.«
»Zu Sean?«, rief sie, und in ihrer Stimme schwangen Angst und Hoffnung zugleich mit.
»Es ist möglich, Mrs Finley. Alles ist möglich, glauben Sie mir. Ich werde…«
»Jetzt spüre ich die Wärme intensiver!«, rief sie. »Es ist einfach wunderbar. Ich kann es nicht beschreiben, ich fühle mich wie im – im – nein, ich kann es beim besten Willen nicht sagen…«
»Ruhig, Kate, ruhig, es wird Ihnen nichts geschehen.«
»Ja, das hoffe ich.«
»Bitte, Sie müssen jetzt nur daran denken, dass man Ihnen eine Botschaft vermitteln will. Nichts anderes ist für Sie wichtig. Eine Botschaft, die möglicherweise aus einer Welt stammt, in die wir keinen Einblick haben.«
»Danke, ich weiß…«
Es lag nicht nur daran, dass die Dämmerung mittlerweile die Oberhand gewonnen hatte, dass ich das Kreuz wesentlich heller sah, es hatte selbst zu leuchten begonnen. Ob das Licht im Metall zu sehen war oder an seiner Außenseite, das wusste ich nicht.
Eines war für mich auch sicher: Dieses Kreuz stellte sich nicht gegen seine Trägerin, sodass ich Kate Finley als negativ hätte einstufen müssen. Aber es brachte ihr eine Botschaft. Und es musste auch die andere Seite aufgewühlt haben, wo immer sich diese befand.
Zum Glück blieben wir die einzigen Besucher auf diesem Teil des Friedhofs. Es gab keine Störung von außen, und Kate Finley erlebte das Unwahrscheinliche weiter. Sie sprach noch nicht, aber ihrem Gesicht war anzusehen, dass in ihrem Innern ein Sturm von Gefühlen tobte.
Ich wollte sie jetzt nicht stören und erkundigte mich deshalb auch nicht nach den Gründen.
Die allerdings sagte sie mir selbst. Ihre Stimme klang halblaut und wehte vom Grab zu mir herüber.
»Ja – ja – sie ist wieder da…«
»Wer?«
Ohne die Blickrichtung zu ändern, flüsterte sie: »Die Stimme, Mr Sinclair. Die Stimme, die ich in der Leichenhalle gehört habe. Ich höre sie jetzt ebenfalls. Sie befindet sich in meinem Kopf. Sie – sie braust umher. Sie ist wie ein Sturmwind…« Nach diesen Worten folgte ein leises Stöhnen.
»Können Sie die Stimme erkennen?«
»Nein!«
»Es ist also nicht Ihr verstorbener Mann?«
»Ja…«
Es wurde spannend. Ich konzentrierte mich dabei auf mein Kreuz, das noch immer von einem Lichtkranz umgeben war, und hätte wirklich etwas darum gegeben, die Stimme zu hören. Ich traute mich nicht, das Grab zu betreten, weil ich Angst davor hatte, etwas zu zerstören.
Vom Grab selbst ging keine Botschaft aus. Das hätte ich gemerkt, weil ich dicht davor stand. So musste ich mich weiterhin auf Kate Finley verlassen.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Ich sah, dass sie lächelte. Als normales Lächeln wollte ich es nicht ansehen. Es kam mir schon selig vor.
Sie sprach auch. Aber sie redete leise. Dabei nickte sie und machte einen glücklichen Eindruck.
»Ich glaube dir«, hörte ich sie dann sprechen. »Aber ich weiß nicht, wer du bist…«
Die Antwort hätte ich gern erfahren. Leider gab Kate sie nicht weiter. Ich überlegte noch, ob ich sie ansprechen sollte. Es war gefährlich, das stand fest. Es bestand die Gefahr, dass ich sie störte und die Verbindung unterbrach.
Immer mehr Schatten hüllten die Grabstätte ein. Was allerdings nicht ungewöhnlich war, denn auch die anderen Gräber waren davon betroffen. Alles schien sich verändert zu haben. Die Welt nahm Abschied vom Tag und sah der Dunkelheit entgegen.
Nur dort, wo sich Kate Finley aufhielt, gab es das Licht. Und es war ein besonderes, denn es wurde nicht von einer Lampe abgegeben, sondern von meinem Kreuz.
Die Verbindung bestand noch immer.
Kate sprach immer noch. Das sah ich an den Bewegungen ihrer Lippen. Nur wollte sie nicht laut reden. Einige Male nickte sie sogar, und jetzt hielt mich nichts mehr davon ab, das Grab zu betreten.
Auch ich setzte meine Schritte vorsichtig, weil ich nicht gegen irgendwelche Beigaben treten wollte. Ich schlängelte mich so in die Nähe der Witwe. Einen bestimmten Plan verfolgte ich
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