1433 - Der Engel, die Witwe und der Teufel
nicht, weil ich ein Mensch war, der spontan handelte.
Der Grabstein war ebenfalls in das vom Kreuz abgestrahlte Licht getaucht. Er hatte eine fahle Farbe angenommen. Die eingravierte Schrift darauf schien zu zittern.
Kate Finley war so mit dem Kreuz und der Botschaft beschäftigt, dass sie mich erst bemerkte, als ich dicht neben ihr stand. Da aber schrak sie zusammen, und ihr Kopf ruckte nach links.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ja, ja…«, stieß sie hervor. »Er ist da!«
»Wer bitte?«
»Der, den ich aus der Leichenhalle kenne. Ich habe seine Stimme gehört.«
»Aber es war nicht Ihr Mann – oder?«
»Nein, Mr Sinclair. Das hätte ich gehört. Mein Mann ist ja tot. Er kann nicht mehr reden. Es ist eine andere Person oder ein Geist. Von irgendwoher.«
»Hat er denn mit Ihnen über Ihren Mann gesprochen?«
»Ja, er hat mir noch mal erklärt, dass es ihm gut geht. Aber er war auch traurig. Er hat gesagt, dass es ihm Leid tut. Wieder einmal. Wie in der Halle.«
»Aber Sie wissen nicht, wer er ist?«
»Nein.«
»Keine bekannte Stimme?«
»Auch nicht. Ich dachte schon an einen Geist, der sich irgendwo in der Totenwelt aufhält.«
»Und Sie können sich auch nicht vorstellen, warum er sich ständig bei Ihnen entschuldigt?«
»Nein, das kann ich nicht. Aber es muss mit dem Tod meines Mannes zusammenhängen. Etwas anderes kommt mir einfach nicht in den Sinn, Mr Sinclair.«
»Und jetzt? Hören Sie die Stimme noch immer?«
»Nein, sie ist verschwunden.«
Es war schon eine ungewöhnliche Szene. Da standen sich zwei Menschen auf einem Grab gegenüber und sprachen von einer Botschaft, die ihnen aus einer anderen Welt zugeschickt wurde. So etwas sprengte mal wieder die Grenzen der Normalität. Aber das war ich gewohnt, und ich wollte auch auf diesem Weg weitergehen.
»Bitte, bleiben Sie jetzt stehen, wo Sie sind«, bat ich die Witwe.
»Gehen Sie keinen Schritt zur Seite: Behalten Sie auch das Kreuz fest im Griff.«
»Ja, mache ich. Und weiter?«
»Das werden wir sehen.« Mir gehörte das Kreuz. Ich war der Sohn des Lichts. Es war meine Waffe gegen die Mächte der Finsternis, und es tat mir immer wieder gut, wenn ich es berühren konnte.
Es bereitete mir kein Problem, denn es ragte weit genug aus Kate Finleys Faust hervor.
Ich fasste es an!
Ja, es war aktiviert. Augenblicklich bemerkte ich den Wärmestoß, der über meine Hand glitt. Es war wunderbar, diese andere Botschaft zu erleben. Über meine Lippen glitt ein Lächeln.
Das war eine Botschaft und nichts anderes. Schon bei der ersten Berührung fühlte ich mich besser. Zwar hatte ich nicht den Eindruck zu schweben, aber ein gewisses euphorisches Gefühl war schon zu spüren. Das hing damit zusammen, dass mir Grenzen eröffnet worden waren. Da gab es die Barrieren zwischen den einzelnen Dimensionen nicht mehr, und ich erlebte den Kontakt mit der anderen Seite.
Zuerst glaubte ich, in den Ohren ein gewissen Singen oder Summen zu hören. Es war ein wunderbarer Klang, der aus einer Welt stammte, die sicherlich nicht als negativ einzustufen war. Ich empfand diese Musik als wunderschön, sie beruhigte, obwohl es im Prinzip keine Musik war und ich einzig und allein auf die Stimme lauschte.
Enttäuscht wurde ich dabei nicht.
Ich hörte etwas.
Eine Stimme? Nein, nicht direkt. Der Begriff akustische Botschaft traf besser zu. Ich vernahm sie auch nicht unbedingt in meinen Ohren, die Stimme schwang durch meinen Kopf.
»Wer bist du…?«
Ich gab eine geflüsterte Antwort. »Mir gehört das Kreuz…«
»Ja, ich erlebe es. Etwas Wunderbares. Ich spüre sehr deutlich seine tiefe Kraft.«
»Und wer bist du?«
»Ein Versager bin ich. Ich habe versagt. Ich habe ihn nicht retten können. Aber ich will jetzt aufpassen, das habe ich mir geschworen. Ich gebe Acht. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.«
»Auf wen willst du Acht geben?«
»Ich muss es tun. Ich habe versagt. Die Blicke der Toten machen mich fertig. Sie haben mir noch eine Chance gegeben, eine wirklich allerletzte Chance…«
Ich hatte zwar Antworten bekommen, aber ich hatte noch viele Fragen. Leider konnte ich die nicht mehr stellen, denn ich spürte, dass sich die Person zurückzog.
Mein Kopf war wieder frei, und auch Kate Finley merkte, dass etwas geschehen war.
Sie zuckte neben mir zusammen und schrie leise auf, als sie sah, dass mein Kreuz seinen Glanz verlor. Dann drehte sie sich von mir weg, ging aber nicht vom Grab.
Sie blieb stehen.
Ihre rechte Hand deutete auf den
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