1443 - Die Hölle stirbt nie
für eine Ehe, womöglich noch mit Kindern, keine Zeit gewesen. Und jetzt, mit fünfzig Jahren, glaubte er nicht mehr daran, dass ihm die große Liebe noch mal begegnen würde. Da hatte Amor seine Pfeile sicherlich wieder im Köcher verschwinden lassen.
Viele Menschen in seinem Alter hatten schon graue Haare. Bei ihm traf das nicht zu. Sie waren noch ebenso dunkel wie vor zwanzig Jahren, und das machte ihn irgendwie jünger.
In seinem Gesicht sprang die Nase scharf hervor, gebogen und an den Enden recht breit. Die Wangen waren glatt rasiert, und über den Augen lagen dunkle, buschige Brauen.
Diesen Anblick nahm er auf, als er im Flur vor dem Spiegel stehen blieb und seinen Mantel überstreifte. Er musste zwar nur eine kurze Strecke bis zu seiner Kathedrale laufen, aber der Wind war doch recht kalt, und frieren wollte er nicht.
Er verließ seine Wohnung und stemmte sich leicht gebückt gegen den Wind. Sein Haus lag einige Meter von dem hohen Bauwerk mit den beiden spitzen Türmen entfernt.
Altes Laub raschelte unter seinen Füßen, nachdem er die kleine Treppe vor der Haustür hinter sich gelassen hatte. Der Wind trieb es vor sich her. Es wurde an einer bestimmten Stelle an der Kathedralenwand zusammengetrieben und bildete dort einen Haufen.
Der Himmel war dunkel. Nur wenige Laternen spendeten am Weg zur Kathedrale hin Licht, und wenn ihr Schein das kahle Geäst der Bäume berührte, dann erhielt es einen weichen Schimmer.
Morton Butler lächelte vor sich hin. Er freute sich über die Aktivitäten der Pfadfinder, denn sie bewiesen, dass die Jugend sich nicht nur aus Junkies und Verweigerern zusammensetzte. Es gab noch eine andere Seite, die leider nicht so stark im Licht der Öffentlichkeit stand.
Der Reverend blieb im Schatten der mächtigen Kirchenmauer. Wie immer kam er sich so klein vor, aber das machte nichts, denn Morton Butler war ein Mensch, der auf die Macht der Kirche vertraute.
Auf dem Vorplatz konnte er den Böen nicht ausweichen. Deshalb stellte erden Kragen hoch, hatte so im Nacken einen recht guten Schutz und wandte sich seiner Kirche direkt zu.
Die große Tür, die etwas in eine breite Nische hineingesetzt war und deren Ende bildete, war geschlossen, aber nicht verschlossen. Er musste eine große Klinke niederdrücken und sich dann gegen die schwere Tür stemmen.
Die Kathedrale war seine Heimat. Egal, durch welchen Eingang er sie betrat, es war für ihn auch nach Jahren immer noch ein Erlebnis, hier der weltliche Chef zu sein. Stets überfiel ihn so etwas wie ein Gefühl der Ehrfurcht. Das war auch an diesem Abend nicht anders, aber es kam noch etwas anderes hinzu, als er stehen blieb und seinen Blick nach vorn gleiten ließ, vorbei am mit Weihwasser gefüllten Taufbecken auf den Altar, der eigentlich recht groß war, aus der Entfernung aber ziemlich klein aussah.
Lange Bankreihen gab es. In den Seitenschiffen standen Stühle.
Der Glanz und der Prunk einer katholischen Kirche war hier nicht vorhanden. Es hingen auch keine prächtigen Bilder an den Wänden.
Es gab keinen großen Schmuck. Da schwebten keine Engel als Gemälde über den Gläubigen, und es waren auch keine Figuren an den Wänden zu sehen.
Und eben diese Schlichtheit der Anglikaner gefiel ihm. So kam etwas Neues in der Kirche besonders zum Ausdruck. Da hoben sich auch die beiden hohen Tannen vor und seitlich des Altars deutlich ab. Sie erinnerten an zwei spitze Dreiecke, aber sie würden erstrahlen, wenn sie ihren Schmuck trugen.
Um Mitternacht würde es so weit sein.
Manche Menschen hätten das Innere der Kirche als düster bezeichnet. Ja, es war auf eine gewisse Art und Weise dunkel, aber wenn sich die Augen daran gewöhnt hatten, fand sich selbst ein Fremder in der Kirche auch ohne Licht zurecht.
Der Reverend ging langsam weiter. Er genoss es stets, in dieser hohen Kathedrale zu sein, und er genoss es immer dann, wenn er die einzige Person war. Natürlich war es auch etwas Besonderes, wenn das Innere vom Gesang der Gläubigen erfüllt war, aber in dieser stillen Adventszeit war es ein unbeschreibliches Gefühl, allein in der Kirche zu sein und sich seinen Gedanken hingeben zu können.
Neben dem Taufbecken blieb er stehen. Es war einer seiner Lieblingsplätze, direkt unter der Orgel, die sich auf einer mächtigen Galerie ausbreitete. Die Konzerte darauf waren ein Genuss, und Weihnachten würde sie förmlich explodieren.
Er lächelte, als er daran dachte. Und auch an eine volle Kirche, was sonst leider nur noch selten
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