1444 - Legende und Wahrheit
ihr Name Illu oder irgendein anderer sein.
Jetzt allerdings erkannte Julian Tifflor, daß er damals falsch spekuliert hatte. Der Glaube an Illu war nicht im Lauf mehrerer Generationen entstanden, sondern kurzfristig. Die NARGA SANT war aus Pinwheel gekommen, weil die Kartanin sich aus irgendeinem bisher unerfindlichen Grund verpflichtet gefühlt hatten, den bedrängten Galaktikern zu Hilfe zu eilen.
Das war zur Zeit des Hundertjährigen Krieges gewesen. Es gelang dem riesigen Raumschiff nicht, auf herkömmliche Art und Weise in die Milchstraße einzufliegen - ob der Chronopuls-Wall damals schon existierte oder es Hindernisse anderer Art gab, war unklar. Auf jeden Fall war die NARGA SANT, die von der äußeren Erscheinung her einem 90 Kilometer langen Asteroiden glich, im Halo steckengeblieben und hatte sich schließlich in Richtung Point Siragusa gewandt. Dort arbeitete seit längerer Zeit ein Forschungsunternehmen der Kosmischen Hanse: Acht Orbitalstationen umkreisten das massive Schwarze Loch, und ihren Besatzungen war aufgetragen zu ermitteln, ob Siragusa Black Hole womöglich Anfangs- und Endpunkt einer Einstein/Rosen-Brücke sei, die man benützen könnte, um rasch in einen anderen Teil des Universums zu gelangen.
Die ursprüngliche Leiterin des Unternehmens war eine mittlerweile legendenumrankte Frau namens Illu Siragusa, nach der schließlich auch das Black Hole benannt worden war. Als die NARGA SANT eintraf, gab es Illu längst nicht mehr: Sie war mit einer spärlich bemannten Space-Jet zu nahe an den Ereignishorizont geraten und ins Innere des Schwarzen Loches gesogen worden. Zu der Zeit, da das kartanische Riesenraumschiff den Siragusa-Sektor erreichte, war die Forschungsstation der Kosmischen Hanse schon in der Auflösung begriffen. Die Mannschaften verließen die Orbitalplattformen, nachdem sie diese mit Sprengsätzen präpariert hatten. Der Hanse lag daran, dem Gegner - wer er auch immer sein mochte - kein funktionierendes Gerät in die Hände fallen zu lassen. Die Hanse-Mannschaften hatten keine Zeit, der NARGA SANT Unterstützung zu geben.
Es kam nur zu einer ganz kurzen Kommunikation, in der die Hanse-Leute den Kartanin mitteilten: ILLU SEI MIT EUCH.
Aus den Aufzeichnungen, die an Bord des Wracks gefunden worden waren, ging nicht eindeutig hervor, wie lange die NARGA SANT sich noch im Siragusa-Sektor aufgehalten hatte, bevor sie sich ins Schwarze Loch stürzte. Bisher war Julian Tifflor der Ansicht gewesen, die Entscheidung sei recht bald gefallen, die Katastrophe des kartanischen Großraumschiffs habe sich wenige Tage, höchstens Wochen nach dem Abzug der Hanse-Truppen abgespielt. Jetzt mußte er seine Meinung revidieren. Die NARGA SANT war im Gravitationssog des Black Hole in zwei ungleich große Teile zerbrochen. Den größeren Teil hatte das Schwarze Loch verschlungen, der kleinere war ausgespien worden und jahrhundertelang antriebslos durch den intergalaktischen Leerraum gedriftet.
Aber der Glaube an die mythische Gottheit Illu hatte auf beiden Wrackteilen existiert! Das konnte nur bedeuten, daß die NARGA SANT noch jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelang im Siragusa-Sektor gekreuzt hatte, bevor die Kommandantin endlich den Mut faßte, das riesige Schiff dem Schwarzen Loch anzuvertrauen. In der Zwischenzeit mußte unter der Besatzung der geistige Verfall eingesetzt haben. Mit einem Auftrag bedacht, den sie nicht erfüllen konnten, der ihnen aber gleichzeitig die Rückkehr in die Heimat verbot, waren die Kartanin der schleichenden Verzweiflung anheimgefallen. Verzweifelnde Wesen entwickelten eine starke Affinität zur Religion. Die letzte Mitteilung aus der Umwelt, von der sie nun völlig abgeschnitten waren, hatte gelautet: ILLU SEI MIT EUCH. Illu wurde zur Gottheit, zum Trost der Hoffnungslosen.
Das Schicksal des größeren Teiles der NARGA SANT war weitaus grausamer, als man bisher angenommen hatte. Nicht nur war das Schiff auseinandergerissen, das größere Fragment war obendrein von den gravitationsmechanischen Strudeln unmittelbar über dem Ereignishorizont zermahlen worden. Eine Million Kartanin hatten sich ursprünglich an Bord des Riesenschiffs befunden. Hunderttausende mußten es gewesen sein, die mit dem größten Wrackteil zugrunde gingen. Der Verstand sträubte sich gegen den Versuch, die letzten Minuten der Katastrophe bildlich auszudenken. Das Herz tat weh.
Julian Tifflor trieb langsam dahin. Die Trümmerfläche hatte in der Richtung, in der er sich bewegte, eine Ausdehnung
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