1449 - Der Knochentempel
Dingen zugewandt und auch seine Tochter mit hineingezogen.«
Das war für uns deutlich zu sehen, wenn wir auf die Glotze schauten. Ellen Kinley stand noch immer an derselben Stelle. Nicht einen Fuß hatte sie zur Seite bewegt. Ob sie die Augen offen oder geschlossen hielt, war für uns ebenfalls nicht sichtbar. Meiner Ansicht nach musste sie gegen die Wand schauen, als würde dort gleich etwas Besonderes passieren.
»Soll ich den Film schneller durchlaufen lassen?«, fragte der pensionierte Bischof.
»Nein, lassen Sie mal. Ich möchte nicht, dass uns etwas entgeht.«
»Gut.«
Ich ging davon aus, dass etwas geschehen musste. Das sagte mir meine Erfahrung.
Und tatsächlich – es geschah etwas. Es kam zu einer Veränderung.
Vor Ellen und dort, wo sich die Wand befand und auch das Licht seine ungewöhnliche Quelle hatte, geriet die Luft in leichte Bewegung. Das sah für uns zumindest so aus.
Es erschien etwas.
Es war nicht zu beschreiben, aber es baute sich trotzdem auf und erhielt Umrisse.
Der Bischof saß auf der Sessellehne und hielt den Atem an. Dabei schüttelte er stets den Kopf und fuhr mit beiden Händen an seinen Wangen von oben nach unten.
»Was ist das?«
Ich konnte ihm keine Antwort geben, denn auch ich musste noch schauen. Noch ging ich von einem unförmigen Gebilde aus. Es bestand nicht aus fester Materie, man konnte es eher mit dem Begriff feinstofflich umschreiben. Wenn das stimmte, bekam Ellen Kinley Besuch von einem Geist. Eine andere Erklärung hatte ich auch nicht.
Das seltsame Licht war von gelblicher Farbe. Sie verteilte sich, aber es gab auch ein Zentrum.
Wir starrten beide hin. Auch ich war von diesem Vorgang jetzt fasziniert. Kalte Schweißtropfen bedeckten meine Stirn.
Ellen Kinley bewegte sich jetzt. Sie hob beide Arme an, als wollte sie das Gebilde anbeten. Nach wie vor konnten wir ihr Gesicht nicht sehen, denn sie dachte nicht daran, ihre Haltung zu verändern.
»Das ist ein Gesicht!«, stieß Ampitius hervor. »Schauen Sie hin, Sinclair, es ist ein Gesicht.«
»Stimmt.«
»Meine Güte…«
Ich gab keinen Kommentar ab, musste allerdings zugeben, dass mich das Gesicht trotzdem beeindruckte. Es war gewaltig und nahm den größten Teil der Wand ein.
Und es war ein böses, ein grausames Gesicht, aber keine dämonische Fratze. Es gehörte schon einem Menschen, aber es strahlte etwas so Bösartiges ab, dass nicht nur sensible Menschen Angst bekommen konnten.
Ein glatter Kopf ohne Haare. Kalte Augen ohne Pupillen. Etwas Weißes leuchtete darin. Eine breite Nase, die wie ein Klotz nach vorn wuchs. Darunter ein Mund mit breiten, dünnen und zugleich geschlossenen Lippen. Es gab keinen Bart, der das wuchtige Kinn verdeckt hätte, aber wir sahen an den Seiten die großen Ohren, deren Läppchen erst in Höhe der Mundwinkel endeten.
Ampitius hatte sich wieder so weit gefangen, dass er eine Bemerkung machte.
»Wer ist das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ein Geist?«
Ich hob die Schultern.
Ampitius ließ nicht locker. »Oder ist es vielleicht der Teufel, Mr Sinclair?«
»Nein, das denke ich nicht.«
Ampitius war anderer Meinung. »Das muss der Teufel sein«, flüsterte er. »Wie man schon in der Bibel lesen kann, ist er in der Lage, alle möglichen Gestalten anzunehmen. Er kann als Jüngling erscheinen, aber auch als Monster. Das müssten Sie ebenfalls wissen.«
Ich wollte mich auf keine Diskussion einlassen, legte einen Finger auf meine Lippen und beobachtete Ellen Kinley, die nicht mehr stehen blieb und langsam in die Knie sank.
Sie blieb nicht nur in ihrer knienden Haltung. Sie beugte ihren Oberkörper sogar noch weiter vor, bis sie mit ihrer Stirn den Boden berührte.
»Was tut sie da?«
»Keine Ahnung.«
»Beten?«, hauchte mein Nachbar. »Das – das – kann ich mir nicht vorstellen. Das ist unwahrscheinlich. Nein, das ist…«
»Warten Sie es ab.«
Es war die falsche Antwort gewesen, denn plötzlich war der Film zu Ende. Wir schauten auf den Bildschirm und sahen ihn nur noch als graue Fläche vor uns.
Sekundenlang sprachen wir nicht. Dann griff ich zur Fernbedienung und schaltete den Recorder aus.
Ampitius saß weiterhin auf seiner Sessellehne. Nur hatte er die Hände vor sein Gesicht geschlagen und schüttelte den Kopf. Der Inhalt des Films hatte ihn sehr mitgenommen, und ich hörte auch sein leises Stöhnen.
Wenig später fasste er mich an und fragte: »In was sind wir da hinein geraten, Mr Sinclair?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Aber es gab das
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