1458 - Die Mordkapelle
wollte nur bis zur Dämmerung warten, um dann wieder zuschlagen zu können.
Zuvor musste sich Vanessa verstecken. Dass der Tote so schnell entdeckt werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Es war nun mal geschehen, und damit musste sie sich abfinden.
Wohin jetzt?
Es gab für sie nur eine Alternative. Dorthin, wo sie sich sicher fühlte. Und da gab es nur einen Ort in der Nähe, und das war die Kapelle. Etwas anderes kam für sie nicht infrage.
Zum Glück lagen die Kirche und der Friedhof am Rand der kleinen Ortschaft. So musste sie ihn nicht erst durchfahren, um die Kapelle zu erreichen. Sie konnte den direkten Weg nehmen und sich dabei am Waldrand bewegen, sodass sie dort im Notfall sofort Schutz fand.
Sie fuhr schnell. Geduckt hockte sie auf ihrem Rad. Ihr Gesicht zeigte einen verbissenen Ausdruck. Der Fahrwind pfiff gegen sie. Er durchdrang auch den Stoff des Jogginganzugs, aber die Kälte spürte sie auf ihrer Haut nicht mehr.
Als sie die Kapelle sah, ging es ihr besser. Sie stand dort einsam, als wäre sie gebaut worden, um den Gewalten der Natur zu trotzen.
Der letzte Blick zurück.
Ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Niemand hatte sie gesehen, und es war ihr auch niemand gefolgt.
Genau so hatte sie es sich vorgestellt. Vor dem Eingang bremste sie ab. Das Rad nahm sie mit in die Kapelle, und erst als die Tür hinter ihr zuschlug, fühlte sie sich wohler.
Sie ging auf den Altar zu. Ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. In ihrem Kopf gab es die schlimmen Gedanken der Furcht nicht mehr, denn sie wusste, dass sie nicht allein war.
In der Mitte der Kapelle blieb sie stehen. Durch die vier Fenster sickerte das Licht, ohne eine große Helligkeit zu verbreiten. Staubkörner tanzten durch die Luft und flirrten auf, wenn sie in die wenigen Lichtstrahlen gerieten. Das hier war kein Ort für Lebende, hier konnten sich nur Menschen wohl fühlen, die tot waren.
So wie sie.
Aber Vanessa lächelte. Sie war tot und lebte trotzdem, und sie wusste auch, dass sie ihrem mächtigen Beschützer vertrauen konnte.
Deshalb war sie hier – und nicht nur, um sich zu verstecken.
Er zeigte sich nicht. Trotzdem vertraute Vanessa ihm und schritt auf den schlichten Altar zu.
Dort nahm sie Platz. Sie spürte nicht die Kälte des Steins und auch nicht die Kühle in der Kapelle. Sie wartete darauf, dass sich die andere Seite öffnete und zu ihr kam.
Die Augen hielt sie offen. Der kalte und leere Blick war nach vorn gerichtet. Dort war das Licht auch nicht heller, aber sie reagierte noch immer wie ein Mensch, auch wenn sie nicht mehr atmen musste oder konnte.
Er würde kommen. Er ließ sie nicht im Stich. Er hatte sich ihr kurz vor ihrem Ableben gezeigt und ihr ein Versprechen gegeben, an das sie unerschütterlich glaubte.
Wann kam er?
Zeit verstrich. Vanessa merkte es nicht, denn sie gehörte nicht mehr zu den Lebenden. Sie saß in der Leere der Kapelle, ohne Freude zu empfinden. Es gab bei ihr überhaupt keine menschlichen Empfindungen mehr. Auch der Schmutz auf ihrer Kleidung störte sie nicht. Irgendwie war alles anders geworden, aber sie vernahm das, was sie als Mensch niemals zu hören bekommen hatte.
Das waren Stimmen. Geheimnisvolle und rätselhafte Stimmen.
Nicht deutlich zu verstehen, sondern nur als Wispern zu hören oder als leises Zischeln.
Sie waren um sie herum, und manchmal glaubte Vanessa, auch Schatten zu sehen. Etwas Gestaltloses, Amorphes. Keine Schatten, die von Menschen oder Gegenständen stammten, sondern welche, die einfach aus dem Nichts erschienen waren.
Sie kamen von irgendwoher. Sie fielen ein in die kleine Kapelle.
Durch die Wände, durch das Dach, aber sie empfand sie nicht als bedrohlich. Für sie waren es nicht nur die Botschafter einer anderen Welt, sondern zugleich ihre Begleiter.
Sie würden einen schützenden Ring um sie bilden. Schatten, die mal Menschen gewesen waren und vielleicht jetzt das Jenseits verlassen hatten, um eine der Ihren zu begrüßen.
Aber sie besaß noch ihren Körper…
Warten bis zur Dämmerung. Dann zuschlagen, denn sie hatte nicht vergessen, dass noch zwei Mörder auf ihrer Liste standen. Sie mussten noch an diesem Tag sterben. Am liebsten hätte sie die Schweinehunde in die Kapelle gebracht, um sie auf diesem primitiven Altar zu opfern. Ob das möglich war, stand in den Sternen.
Einen Versuch jedenfalls war es wert.
Und so wartete sie. Erfüllt von düsteren Mordgedanken, die ihr den Weg in die Hölle freimachten…
***
Ryan Hurst
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