1458 - Die Mordkapelle
hatten sich schon so weit von der Normalität ihres Tuns entfernt, dass sie nicht mehr begriffen, was sie eigentlich anrichteten. Sie glotzten über den liegenden Körper hinweg und merkten dabei, wie stark sie unter den Masken schwitzten.
Gleichzeitig wunderten sie sich über ihren Anführer. Ryan hatte der jungen Frau die Hose zwar ausgezogen, aber sie trug noch den hellen Slip, und er machte nicht weiter.
Barry und Tom wollten ihn etwas fragen, doch sie trauten sich nicht. Sie warteten darauf, dass Ryan weitermachte.
Die Kälte nahm bei Vanessa zu. Sie war wie ein großes Tuch, das alles bedeckte. Sie kroch in ihr Inneres, und plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht mehr zu atmen brauchte.
Ob sie tot war oder lebte, was spielte das noch für eine Rolle? Es gab da diese seltsame Schwelle, auf der sie sich befand, die ihr jedoch keine Furcht einjagte. Sie hatte eher das Gefühl, sich freuen zu können, weil etwas völlig Neues auf sie zukam.
Plötzlich fühlte sie sich beschützt und glaubte sogar, leise Stimmen zu hören, die sie in Empfang nahmen. Es war so wundersam und anders geworden. Plötzlich glich ihr Dasein einer Flucht – und noch ein Phänomen kam hinzu.
Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Er schwamm weg. Er trieb dahin, und sie wusste nicht einmal in welche Richtung. Das konnte überall sein. Es gab keine Grenzen mehr, es war alles so leicht geworden, und es schien sich das erfüllt zu haben, wovon sie immer geträumt hatte.
»Ryan! He, Ryan…«
Tom hatte gerufen. Ihm war die Haltung seines Freundes unheimlich geworden. Der tat nichts. Er stand einfach nur da und starrte nach vorn. Sein Blick war leer geworden, und auch als er angesprochen wurde, reagierte er kaum.
»Da stimmt was nicht, Ryan!«
»Lasst sie los!«
»Okay!«
Vier Hände lösten sich von dem Mädchen. Frei lag Vanessa Blair vor ihnen. Sie keuchte nicht, sie bewegte sich nicht, was auch Tom und Barry merkten. Als hätten sie sich gegenseitig abgesprochen, zogen sie ihre Masken ab. Ihre Gesichter sahen verschwitzt aus.
»Da – da – stimmt was nicht!«, stotterte Tom.
Ryan Hurst sagte nichts. Er merkte nur, dass ein kalter Schauer seinen Rücken hoch kroch, und er nicht wahrhaben wollte, was seine Augen sahen. Er starrte auf die junge Frau, die bewegungslos auf dem Altar lag. Ihr Mund war nicht geschlossen. Wie die Augen aussahen, das konnte er nicht erkennen. Dazu war das Licht zu schlecht.
Ein schlimmes Omen breitete sich in seinem Innern aus. Plötzlich hatte er das Gefühl, über dem Boden zu schweben. Er wagte kaum zu atmen, und bestimmte Gedanken drehten sich in seinem Kopf.
In bestimmten Situationen wollte Ryan Sicherheit haben. So war es auch jetzt. Er musste wissen, was mit dieser Person geschehen war.
Noch glaubte er an eine Täuschung.
Er beugte sich über sie.
Das Gesicht war jetzt gut zu sehen. Er sah die starren Augen, und als er keinen Atem spürte, da war ihm klar, was passiert war.
Er zuckte vor der starren Gestalt zurück, als hätte er Angst davor, dass sie jeden Augenblick aufspringen und ihm an die Kehle gehen würde. Eigentlich hätten Gedanken in seinem Kopf schwirren müssen, aber er war leer.
Seine beiden Kumpane sagten auch nichts. Ryan drehte ihnen sein Gesicht zu.
»Und?«, flüsterte Barry, der seine Schultern in die Höhe gezogen hatte.
»Sie ist tot, glaube ich…«
***
Niemand wagte, ein Wort zu sagen. Jeder Kommentar war ihnen in der Kehle erstickt. Alle drei hatten das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen.
Dann sah es so aus, als wollte Tom eine Frage stellen, aber nur ein Krächzen drang aus seinem Mund.
»Tot?«, hauchte Barry schließlich.
»Ja, das ist sie.«
»Aber wieso?« Munson sah sich unsicher um.
»Ich weiß es nicht genau. Aber ihr habt sie umgebracht. Ihr habt ihr den Mund zugehalten, verflucht. Daran ist sie gestorben, versteht ihr? Nur daran!«
Tom und Barry überlegten. Viel brauchten sie nicht nachzudenken. Sie kamen sich vor, als hätte man sie geschlagen. Die Worte hatten sie wie eine Anklage getroffen. Aber Ryan war kein Staatsanwalt. Er hing ebenso in der Scheiße wie sie, und deshalb schüttelten sie gemeinsam die Köpfe, als hätten sie sich abgesprochen.
»Nein, verdammt«, keuchte Barry Munson. »Das hefte ich mir nicht allein an die Fahne. Das ist…« Er schüttelte wieder den Kopf und fing an zu brüllen. »Nein, verflucht! Niemals! Nicht nur wir. Du auch. Verdammt, du hast doch gewollt, dass wir ihr den Mund zuhalten, damit sie nicht schreien
Weitere Kostenlose Bücher