147 - Hinter der Totenmaske
jedoch so, daß die ganze Kulisse dieser grausamen Welt von
gewaltigen, unsichtbaren Händen verschoben zu werden schien und das, was für
ihn wichtig war, in den rechten Blickwinkel gerückt wurde.
Ein Mann kam
auf ihn zu.
»Vater!«
Hordegen bewegte die Lippen.
Ein Sturm
der Gefühle übermannte ihn. Was für ein Augenblick! Er sah jenen Mann wieder,
den er vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war sein Vater
so alt gewesen, wie er heute war.
Die Gestalt,
die auf ihn zukam, bewegte sich mit elastischen Schritten. Wie durch Zauberei
hatte sich mitten in dem glutflüssigen See ein kerzengerader Pfad gebildet, der
dunkel schimmerte und breit wie eine Straße war, auf der ihm die einsame
Gestalt entgegen kam.
Und dann
stand er seinem Vater gegenüber.
Vergessen
war der Unheimliche in dem Skelettboot, vergessen die niedergeschlagene
Chantalle Liront. Er nahm das alles gar nicht mehr wahr. Er hatte nur noch
Augen für den Mann, dem er so ähnlich war, daß er meinte, in einen Spiegel zu
sehen.
Walter
Hordegen war im ersten Moment außerstande, jene Worte zu formulieren, die er
sagen wollte. Doch sein Kopf war voller Gedanken, die einander jagten.
»Ich weiß
... ich weiß alles, was du mir sagen willst«, vernahm er da die Stimme seines
Vaters. Sie klang so wie immer. Wie vor zwanzig Jahren! »Deine Gedanken
genügen. Hier spricht man nicht...«
Es wurde ihm
bewußt, daß sein Gegenüber die Lippen nicht bewegte.
So vollzog
sich der Dialog zwischen dem Toten und dem Lebenden auf eine eigene Weise.
Der geistige
Kontakt war hergestellt, Fragen und Antworten ergaben sich von selbst.
Nach zwanzig
Jahren erkannte er, daß doch nicht alles so gelaufen war, wie man es sich in
einer Ehe wünschte. »Viel lag an deiner Mutter«, erhielt er zur Gewißheit, »es
hätte manches anders sein können, wenn sie mehr Einfühlungsvermögen,
Fingerspitzengefühl und Verständnis gezeigt hätte. Ich war oft unterwegs und
lernte in meinem Beruf viele Menschen kennen. Natürlich auch sehr viele Frauen.
Irgendwann im Leben eines Mannes kommt die Stunde, wo er beginnt, Vergleiche zu
ziehen. Versuch’ dich daran zu erinnern! Wie nachlässig wurde der Haushalt geführt. . . wie oberflächlich die Konversation zwischen uns
. .. wie wenig verstand sie es, Gemütlichkeit zu schaffen und Zufriedenheit zu
Verbreiten. Sie trieb mich in die Arme einer anderen. Hast du darüber noch nie
nachgedacht ?«
»Doch,
Vater. Aber auch du warst ungerecht zu ihr .«
»Ja, ich
weiß. Aber es gibt Stunden im Leben, da will ein Mann dies nicht wahrhaben. Da
ist dann eine andere, die hat Verständnis für ihn, läßt ihn seine Sorgen
vergessen, und man geht schnell einen Schritt weiter, als man ursprünglich
wollte. Und dem ersten folgt der zweite. Der ist einfacher. Den dritten und
vierten Schritt merkt man schon gar nicht mehr ...«
»Ich war nie
verheiratet. Und doch verstehe ich dich. Ja - ich glaube, daß es so ist, wie du
sagst, Vater. Wahrscheinlich ist es jedoch so, daß man im Leben über zuviel
Dinge zu wenig nachdenkt, daß der Alltag und unwichtige Dinge die Menschen
überfordern und sie von wirklich Wichtigem abhalten .«
»Und es ist
diese verdammte Schwäche«, wurden ihm die Gedanken seines Vaters bewußt, »der
man nur allzugern, allzuleicht nachgibt, und die es einem einfach macht, in
allem Möglichen eine Entschuldigung zu finden .«
»Und Mutter?
Hast du versucht - jetzt, nachdem die Zeit auf der Erde für euch vorbei war,
das Gespräch nachträglich mit ihr zu führen ?« Die
Gedanken waren plötzlich in Walter Hordegens Bewußtsein aufgetaucht und wurden
schon von seinem Vater beantwortet.
»Nein. Sie
ist nicht da ...«
»Wie soll
ich das verstehen, Vater? Wieso ist Mutter nicht da ?«
»Sie ist -
woanders. Nicht hier. Wir befinden uns nicht auf der gleichen Ebene .. .«
»Komm’ mit
mir, Vater! Ich möchte dir zeigen, wie ich lebe. Du sollst sehen, was ich aus
mir gemacht habe. Ich glaube - du kannst ein wenig stolz sein. Nicht auf die
Totenmaske, die ich aus dem Jenseits gestohlen habe. Doch das ist eine andere
Geschichte ...»
»Ich würde
sie gern hören, Walter ...«
»Dann kommt’
mit! Du kannst es doch, nicht wahr? Man hat es mir gesagt ... Es ist alles
möglich, wenn man nur will .«
»Aber du
weißt, was damit auf dem Spiel steht .«
Der Träger
der Totenmaske faßte einen schnellen Entschluß.
Noch immer
war er frei. Gleich, was die Zigeunerin Estrella und der Unheimliche in dem
makabren
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