147 - Stunde X
Sol! Ich übermittle eine Nachricht aus Meeraka! Thgáan ruft Ora’sol’guudo…)
(Du berührst meine Aura nur schwach, aber du berührst sie.) Die Stimme des Sol in seinem zentralen Nervensystem! Unter dem Todesrochen glitt die Westküste des Kraters hinweg. (Was für eine Botschaft, Thgáan?)
Die mentalen Impulse des Sol drohten in einer Woge von Störimpulsen zu verschwimmen. Thgáan spürte Schmerz, Todesnähe, Entsetzen. Aber auch die Nähe des Sol spürte er, wenn auch immer undeutlicher. (Mefju’drex und seine Alliierten halten einen Kriegsrat in Britana ab. Unser Verbündeter in Waashton wird teilnehmen. Er bittet um Kontakt zu einem Kundschafter in London in vier Rotationen.) (Ich habe deine Botschaft nur undeutlich vernommen, aber verstanden, Thgáan. Halte dich weiterhin…) Die Verbindung riss ab. Der Krater hinter ihm verschwand hinter einer Wolkenbank. Wieder und wieder versuchte Thgáan den Kontakt erneut herzustellen – vergeblich.
Seine Flughöhe betrug nur noch elfhundert Meter. Er spürte einen thermischen Auftrieb. Erschöpft hielt er inne. Eine Zeitlang kreiste er in der warmen Luft, ohne seine Muskulatur zu gebrauchen. Er versuchte sich zu erholen, spürte jedoch, wie die Kraft ihn mehr und mehr verließ. Eine weitere Kraterpassage würde unweigerlich in einem Absturz enden.
Er musste zurück in den Orbit gelangen. Viele Kilometer Aufstieg unter dem Gefrierpunkt standen ihm bevor. Würde er sie bewältigen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nicht sterben wollte. Eine weitere Facette seiner neu gewonnenen Individualität…
***
Moskau, Anfang September 2521
Ein See voller Blut, ein Meer aus Blut! Dampfschwaden sammelten sich über rot glänzender Flüssigkeit, stiegen zum Himmel auf und verdunkelten die Sonne. Dürre Gestalten sammelten sich an der Küste des Blutmeeres, Tausende und Abertausende von Nosfera in braunen, roten und schwarzen Kutten. Sie stiegen von den Klippen, liefen über den Strand, warfen sich in das seichte Uferblut, und sie tranken und tranken.
Plötzlich zerrissen die dunklen Dampfschwaden unter dem Himmel. Jäh brach die Sonne hervor und schleuderte ihr Licht auf das Blutmeer. Das wurde dunkel, wurde schwarz, und der Dampf verwehte. Die Trinkenden aber starben oder wälzten sich vor Schmerzen gekrümmt im Sand und im zähen, zu ungenießbarem Brei geronnenen und verdorbenen Blut. Und die schon gesättigt den Strand hinauf gingen oder sich anschickten, die Klippen wieder zu ersteigen – sie brachen zusammen und hauchten ihr Leben aus.
Erzvater aber begann zu schreien, so wie jeder, der noch lebte, zu schreien begann, und es war ein einziger Schrei, der schließlich über die Küsten und Klippen gellte. Und während das hungernde und sterbende Volk der Nosfera noch schrie, trat er auf, der starke Krieger, der treue Diener Murrnaus.
Furchtlos schritt er über den Strand, bis er knietief im giftigen Blut stand, und als er sein Schwert aus der Rückenscheide zog, wuchs die Klinge bis zum Himmel hinauf, ja selbst bis zur Sonne, und er schlug zu und zerteilte das verdorbene Blutmeer.
Erneut stieg Dampf auf, als das Blut wieder flüssig wurde, und wieder verdunkelte sich die Sonne, und das Wehklagen der Nosfera verwandelte sich in Jubel und Dankeslieder. Sie tranken und tranken und wurden satt bis an das Ende der Schöpfung…
Erzvater fuhr hoch und lachte krächzend. Schweiß stand ihm auf der grauen Stirn, und sein altes Herz klopfte von innen gegen seine welke Brust. Sein Gelächter ging in keuchende, rasselnde Atemzüge über. Er hustete.
Die Tür zu seiner Kammer wurde aufgestoßen. »Bei Murrnau, was ist passiert, Erzvater?« Eine in braunes Tuch gehüllte Gestalt eilte zum Lager des Greises. »Du hast geschrien! Quälen dich Schmerzen? Bist du krank?« Man duzte ihn, wie alle Nosfera sich untereinander formlos ansprachen – aber mit Respekt und Hochachtung, wie einen Vater eben.
»Nein, Baruk, nein… Es war ein Traum, ein bedeutender Traum…« Erneut schüttelte Erzvater ein Hustenanfall. Der junge Diener rieb ihm den gekrümmten Rücken.
Baruk klopfte und massierte dem blinden Alten Rücken und Schultern und wartete geduldig, bis der Anfall vorbei war. »Ein Bote ist gekommen«, teilte er seinem Herrn endlich mit. »Er bringt Neuigkeiten. Eine Botschaft des Zaritsch.«
»Black…« Erzvater krächzte verächtlich. »Hilf mir vom Lager, Baruk, und kleide mich an.«
Der junge Nosfera wusch den Greis, zog ihm das Nachtgewand aus und streifte
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