1474 - Der Schnitter
Blau hervor als heller Schimmer.
Sandrine konzentrierte sich auf das andere Auge. Sie wollte jetzt alles genau sehen und musste erkennen, dass das rechte Auge so gut wie normal war. Vielleicht schimmerte die Pupille ein wenig zu hell, denn in ihr verteilte sich ein harter Glanz, was Sandrine nicht weiter störte. Sie atmete tief durch, auch weil sie froh darüber war, es hier mit einer menschlichen Gestalt zu tun zu haben und nicht mit einem Monster, wie sie zuerst gedacht hatte.
Er schob sich hoch, und auch die Waffe machte diese Bewegung mit. Sie glitt vor seinem Gesicht entlang, und erneut fiel der jungen Frau das Schimmern der schartigen Klinge auf.
Die Gestalt richtete sich noch ein wenig auf und konnte so über die Wasserfläche hinwegschauen, gezeichnet durch eine blaue und eine helle Gesichtshälfte.
Mama Rosa hatte ihn auftauchen lassen und diesen Vorgang mit keinem Kommentar begleitet. Das änderte sich, als sich die Flüssigkeit wieder beruhigt hatte.
»Es ist mein Geschöpf. Nur mein Geschöpf, verstehst du? Kein anderes, mein Geschöpf…« Sie lachte auf. »Und nicht nur das. Ich habe ein Meisterwerk erschaffen.«
Sandrine wusste, dass sie gefordert war. Es lagen ihr auch Fragen auf der Zunge, nur hatte sie Probleme damit, sie zu formulieren. Sie wusste nicht, wie sie sich einordnen sollte, obwohl sie selbst auch über ungewöhnliche Kräfte verfügte.
Aber sie und Mama Rosa waren durch eine Macht verbunden.
Voodoo hieß der Zauber, er war das Bindeglied zwischen ihnen. Das Geschöpf gehörte zu Mama Rosa, und deshalb glaubte Sandrine auch nicht, dass es ihr feindlich gesonnen war.
Sie spürte, dass Mama Rosa förmlich auf eine Frage lauerte, und ließ sich deshalb auch nicht lange bitten. »Wer ist das? Ist das mein Begleiter? Darf ich endlich seinen Namen erfahren?«
»Ich habe ihn dir schon gesagt. Es ist der Schnitter. Er ist mein Tod. Ich habe ihn geschaffen. Ich weiß, dass sich die Menschen einen wie ihn als Sinnbild für den Tod erfunden haben, und ich bin ihnen dabei entgegengekommen. Für mich ist er der Tod. Wo er auftaucht, hinterlässt er Grauen und Verderben. Er ist der Schrecken und ein lebendig gewordener Albtraum, ein wahres Meisterwerk.«
Da konnte Sandrine nur zustimmen. Damit war ihre Neugierde allerdings noch nicht befriedigt. Sie wollte wissen, woher er stammte und wie er entstanden war.
Mama Rosa reckte ihre Gestalt, bevor sie eine Antwort gab. »Ich habe ihn aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Ich bin es gewesen, die ihn der Kälte entrissen hat. Er sieht aus wie ein Mensch, aber er ist keiner mehr. Er ist der Tod, obwohl er lebt, ist er wirklich tot. So etwas wie eine lebende Leiche, die nur das tut, was ich will. Eine Mordmaschine, denn er war schon in seinem ersten Leben ein Killer. Ich habe ihn gefangen. Ich habe ihn präpariert. Ich habe ihn durch all die Rituale gehen lassen und ihn geweiht. Durch mich wurde er gesalbt, denn in ihm steckt die Macht der Voodoo-Götter.«
Sie hatte sich innerlich erregt, das war ihr anzusehen. Ihre Finger glitten über die Kette mit den kleinen Totenköpfen hinweg, und als diese bewegt wurden, klackten sie gegeneinander.
»Mein Geschöpf!« flüsterte sie. »Der Schnitter ist mein Geschöpf und einfach wunderbar. Er ist der Erfolg des Voodoo, der anderen, der bösen Macht, und auf so etwas habe ich nur gewartet. Wenn er eine Seele besitzt, dann ist es die eines Dämons. Vielleicht ist er auch durch die Kraft der Toten erneuert worden. Ein Körper, der eine Seele gefunden hat und sich nun wieder bewegen kann.«
»Das hast du allein getan?«
»Ja, ich. Aber mit der Kraft der Geister. Sie haben mich unterstützt. Sie sind auf meiner Seite. Die große Macht des Voodoo ist über mich gekommen.«
»Und was bin ich?« flüsterte Sandrine.
»Oh, du spielst eine sehr wichtige Rolle. Ich habe in dir jemanden erkannt, ich weiß, dass ich nicht unsterblich bin, dass es auch für mich mal zu Ende geht, dass ich eine Nachfolgerin brauche. Ich habe mich umgehört, aber niemanden hier in Paris gefunden. Du aber hast die Kraft, an meiner Seite zu stehen und auch an der des Schnitters.«
Sandrine überlegte einen Moment. »Und was bedeutet das für mich?«
»Ganz einfach. Du wirst an seiner Seite bleiben. Du wirst ihn in dieser Nacht begleiten, wenn er einen Auftrag ausführt. Es wird nicht mehr lange dauern, dann werdet ihr euer Ziel erreicht haben. Es ist ein sehr wichtiger Auftrag, sehr entscheidend für die Zukunft einer gewissen
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