1477 - Das steinerne Grauen
Reichweite des Vogelmädchens, was dem egal war.
Es ging Carlotta einzig und allein um Maxine. Sie kippte nach vorn, berührte gar nicht erst den Boden, sondern streckte der liegenden Frauengestalt beide Arme entgegen.
Eine Sekunde später hatte sie Maxine in die Höhe gezerrt.
Nun zeigte Carlotta, welch eine Kraft in ihren Armen steckte. Es machte ihr nichts aus, mit der an ihren Händen hängenden Last zu fliegen und Maxine aus dem Gefahrenbereich zu schaffen.
Die Dogge hatte erst jetzt ihren Schmerz verkraftet. Sie wollte nicht aufgeben. Ihr Sprung in die Höhe war sicherlich weltmeisterlich, aber die beiden Menschen waren bereits zu hoch, sodass das Tier ins Leere sprang.
Carlotta ging davon aus, dass sie ihre Ziehmutter in Sicherheit bringen musste. Der Wagen war ihr im Moment zu unsicher. Sie suchte sich einen Platz aus, zu dem die Dogge ihnen nicht folgen konnte, und so flog sie auf das letzte Haus in der rechten Reihe zu, denn das hatte an der linken Seite einen Anbau mit einem flachen Dach. Es war offenbar eine Garage und eignete sich perfekt als Landeplatz.
Niemand sah die beiden, die sich dem Flachdach näherten und schließlich darauf landeten, wo sie vor dem Hund sicher sein würden…
***
»Das gibt es nicht«, flüsterte Maxine.
»Was gibt es nicht?«
»Dass ich noch lebe.«
Das Vogelmädchen lachte, obwohl es außer Atem war. »Doch, Max, du lebst, und du wirst noch lange leben, denn ich brauche dich schließlich.«
»Und ich verdanke dir mein Leben.«
Carlotta hob die Schultern. Sie fühlte zwei Hände an ihren Wangen, und dann drückte Maxine ihr Kind an sich, und Carlotta spürte, wie sehr die Tierärztin zitterte.
»Es ist gut gewesen, dass du mir den Namen der Straße noch zugerufen hast, sonst hätte ich dich bestimmt nicht gefunden. Und fast wäre ich sogar zu spät gekommen – oder?«
»Ja, das ist leider die Wahrheit. Und ich selbst hätte nichts daran ändern können.«
»Du hättest den Wagen nicht verlassen dürfen.«
»Stimmt.« Dann musste Maxine lachen. »Aber du hättest ihn auch verlassen. Da bin ich mir sicher.«
»Wieso?«
»Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte, die unglaublich klingt, aber der vollen Wahrheit entspricht«, sagte Maxine mit leiser Stimme. Sie musste sich erst sammeln, um sprechen zu können.
Dann brach es förmlich aus ihr hervor, und das Vogelmädchen konnte gar nicht so schnell zuhören wie Maxine sprach. Sie hörte erst auf, als sie alles gesagt hatte, schaute Carlotta von der Seite her an und stellte fest, dass sie sich nicht bewegte.
»He, so wie du dort sitzt, erinnerst du mich an die Dogge.«
»War sie wirklich aus Stein?«
»Ja.«
»Und dann lebte sie wieder?«
»Genau, aber sie hat auch schon vor meiner Ankunft gelebt.«
Das Vogelmädchen senkte den Blick. »Seltsam, aber wie kann so etwas passieren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Jedenfalls ist es nicht normal.«
»Das stimmt.«
»Und welche Gedanken hast du dir inzwischen gemacht, Max?«
Die Tierärztin legte den Kopf zurück. »Das will ich dir genau sagen, meine Liebe. Ich habe nämlich das Gefühl, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugeht, dass wir wieder mal in einem bestimmten Schlamassel stecken und einen Vorgang erlebt haben, der normal nicht zu erklären ist. Ein Hund, der lebt, wird plötzlich zu Stein. Wie ist so etwas möglich?«
»Keine Ahnung.«
»Jedenfalls möchte ich nicht noch mal in seine mörderischen Fänge geraten, das kannst du mir glauben.«
»Ich auch nicht.« Das Vogelmädchen stellte sich hin. »Ich frage mich nur, wo er jetzt steckt.«
»Siehst du ihn?«
»Nein.«
Auch Maxine Wells richtete sich auf. Noch jetzt spürte sie die Nachwirkungen ihres Erlebnisses, denn sie zitterte am gesamten Körper und ihre Knie waren immer noch weich wie Pudding.
Beide hatten sich so gedreht, dass ihre Blicke den Waldrand erreichten, wo es immer dunkler geworden war, denn dort bildeten sich zuerst die Schatten. Manchmal, wenn der Wind etwas kräftiger wehte, bewegte er die Blätter und gab dieser gespenstischen Umgebung so etwas wie ein Eigenleben.
»Ich sehe ihn nicht«, murmelte Maxine.
Carlotta hob die Schultern. »Vielleicht ist er in den Wald gelaufen.«
»Kann sein. Aber man kann ihn doch nicht frei herumlaufen lassen. Der ist eine Gefahr für Mensch und Tier. Man muss dafür sorgen, dass er eingefangen wird.«
»Und wer soll das tun?«
»Ich weiß es nicht, Carlotta. Aber er ist brandgefährlich.«
»Und nicht normal«, erklärte
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