1482 - Clarissas Sündenfall
Clarissa hatte nie mehr als zwei Taten in einem Heim begangen. Danach hatte sie stets ihre Stelle gewechselt. Sie hatte schließlich nicht auffallen wollen, und sie war auch nicht aufgefallen.
Zumindest nicht den Menschen. Aber da gab es etwas, das schlecht zu erklären war und in jedem Menschen steckte. Mann nannte es das Gewissen, und das hatte sich bei Clarissa auf eine besondere Weise gemeldet. Sie wusste nicht, ob es noch einen zweiten Menschen gab, der so davon gequält wurde. Und das Gewissen hatte sich nicht nur bei ihr gemeldet, es war zudem auf eine bestimmte Art aktiv geworden. Es hatte ihr die Folgen dessen geschickt, was sie getan hatte. All die verlorenen Seelen der Menschen, die sie getötet hatte. Und das waren nicht wenige.
Clarissa hatte nach einem Ausweg gesucht. Bis ihr das Kloster eingefallen war. Oberin Angela kannte sie aus einem Heim, wo sie Krankenbesuche gemacht hatte.
Sie hatte Angela ins Vertrauen gezogen. Beide Frauen hatten sehr lange und intensive Gespräche miteinander geführt und waren auch zu einem Ergebnis gekommen.
Für Clarissa stand das Kloster offen. Sie wurde mit weiten Armen aufgenommen, auch wenn sie keine Nonne war, nicht mal Novizin.
Doch wo der Wille stark ist, da gibt es auch einen Weg, und den hatten beide Frauen gefunden.
Aber die Oberin hatte auch etwas Bestimmtes erwähnt. Es gab nicht nur die Schuld, es gab auch die Sühne oder die Buße. Und die würde sie leisten müssen, daran ging kein Weg vorbei.
Clarissa war auch bereit dazu. Sie wollte büßen. Sie hatte Menschenleben vernichtet, jetzt musste sie welche retten, und dafür würde sie jeden Weg gehen.
Es wurde kälter.
Ein Schauer rann über Clarissas Körper. Selbst in der Tracht fror sie, denn diese Kälte war nicht normal und konnte auch nicht in Graden gemessen werden.
Es war die andere Kälte. Eine Kälte, die bestimmte Wesen mitbrachten, deren Heimat nicht die Welt der Menschen war. Clarissa tat nichts dagegen. Sie hätte sich gern versteckt, doch es gab keinen Ort, an dem man sie nicht gefunden hätte. Deshalb spielte es keine Rolle, ob sie nun im Zimmer blieb oder nicht.
Clarissa zog die Arme an. Sie nahm die Haltung eines Embryos im Mutterleib ein. Ihre Augen standen noch immer weit offen, ihr Atem ging schwer, und wenig später erlebte sie den ersten Angriff der Wesen, die ihr so unerklärlich waren, die sie weder fassen noch greifen oder festhalten konnte, die aber trotzdem bei ihr waren und sie quälten.
Die ersten Stimmen erwischten sie. Es waren mehr Laute, sehr hoch, schrill und anders.
Clarissa war trotzdem in der Lage, einen Unterschied zu machen.
Hörten sich die schrillen Laute positiv oder negativ an?
Nein, es waren negative. Wie ein elektronisches Fluchen, eine Folter im Kopf und in den Ohren, der sie nicht entgehen konnte, obwohl sie sich die Ohren zuhielt.
»Du hast es getan!«
»Du trägst die Schuld!«
»Du hast deine Sühne nicht vollbracht!«
»Wir wollen aber Ruhe haben!«
»Hilf uns! Du hast uns schon einmal geholfen! Jetzt ist es noch wichtiger…«
Clarissa hörte die Worte nicht. Aber sie waren in ihrem Kopf und sie verstand den Sinn. Sie wusste nie, wie lange die Qual anhielt.
Das konnten ein paar Minuten sein, aber auch über Stunden gehen.
In dieser Nacht allerdings stand das Glück auf ihrer Seite. Ob es daran lag, dass die Zimmertür geöffnet wurde, wusste sie nicht, aber die Botschaften hörten schlagartig auf.
Dafür vernahm Clarissa die Stimme der Oberin.
»Bist du schon eingeschlafen?«
Sie gab keine Antwort. Clarissa musste erst mit ihrer neuen Situation zurechtkommen. Sie lag wieder in einer normalen Umgebung.
Es gab keine Stimmen mehr, die sie quälten. Sie brauchte auch nicht mehr länger in der Fötushaltung zu bleiben und konnte die Beine wieder ausstrecken, was sie auch tat.
Ihr Gehör war sehr empfindlich geworden. Deshalb vernahm sie auch die Schritte, die sich ihrem Bett näherten, und merkte dann, wie sich jemand auf die Matratze setzte.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Clarissa drehte sich auf den Rücken.
Das Gesicht der Oberin schaute auf sie nieder. Angela lächelte sie an. »Es ist alles gut«, flüsterte sie.
»Meinst du?«
»Ja, ich spüre es. Sie sind doch weg – oder?«
Clarissa bewegte nach dieser Frage ihre Augen. Nirgendwo im Raum war etwas Feindliches zu sehen. Jetzt erkannte sie, dass die Oberin ein Windlicht mitgebracht hatte. Es stand auf dem Boden.
Die Kerze in dem Glasgefäß brannte ruhig und
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