1482 - Clarissas Sündenfall
mich wieder in Bewegung. Mit kleinen und langsamen Schritten überwand ich die uns trennende Distanz und blieb schließlich vor dem Altar stehen.
Ich wollte mit ihr reden, aber sie schaute einfach über mich hinweg oder durch mich hindurch. Es gab nur das, was ihre Augen sahen, und das war für mich unsichtbar.
»Könnt ihr mir denn nicht verzeihen?« rief sie laut und auch quälend. »Bitte, ich habe doch alles getan! Die alten Menschen in den Heimen wollten sterben. Sie haben mich darum gebeten. Ihr Leben war praktisch schon vorbei, und ich habe ihnen nur einen Gefallen getan, das ist alles gewesen. Ich habe mich nicht versündigt. Im Gegenteil, ich wollte den Menschen helfen und dafür sorgen, dass ihre Seelen in den Himmel kommen.«
Erhielt sie Antwort?
Ich wusste es nicht. Aber mir selbst war eine Begegnung mit Wesen aus einer anderen Dimension schon oft genug widerfahren. Da hörte man die Stimmen im Kopf.
Auch Clarissa musste sie gehört haben, denn nicht grundlos duckte sie sich zusammen.
»Man kann einen Mord nicht mit einem Mord sühnen!« sagte ich so laut, dass sie mich verstehen musste. »Das ist unmöglich. Und nur der Allmächtige kann verzeihen, nicht irgendwelche Geistwesen, die keine Ruhe im Jenseits finden…«
Ja, sie hatte mich gehört und bestimmt auch verstanden. Im nächsten Moment veränderte sich ihre Haltung. Sie sackte mit ihren Schultern etwas nach vorn und hob leicht ihren Kopf an, weil sie in mein Gesicht schauen wollte.
Ich hatte nicht mal mein Kreuz offen vor der Brust hängen. Sie war ein Mensch, sie konnte noch eine Kirche betreten, aber sie war auch eine Sünderin, die nur den falschen Weg zur Erlösung gegangen war. Es war auch fraglich, ob sie überhaupt noch zurechnungsfähig war und man sie vor ein Gericht stellen konnte.
Nach einem kurzen und doch heftigen Kopf schütteln fragte sie mich: »Was willst du?«
»Dich holen.«
»Und dann?«
»Dann denke ich, dass du der richtigen Sühne entgegenschauen wirst. Es stimmt, du hast Schuld auf dich geladen, die gesühnt werden muss. Aber nicht auf diese Art, wie du es getan hast. Ein Mensch ist das höchste Gut. Man darf kein Leben zerstören, auch wenn die Motive angeblich lauter sind.«
Sie hatte sehr genau zugehört. Noch intensiver blickte sie mich an und bohrte ihren Blick in meine Augen. Ich las darin kein Verständnis, dafür flüsterte sie: »Geh – geh endlich weg! Lass mich allein, denn ich muss allein damit zurechtkommen. Ich werde meine Taten sühnen und von dem Fluch befreit sein.«
»Das wirst du nicht. Wer immer diese Geister sind, die dich verfolgen, sie werden immer mehr von dir fordern, und das solltest du dir ersparen.«
»Nein, nein, das will ich nicht.« Sie kreischte plötzlich los und schien die kleine Kirche zusammenschreien zu wollen.
Leider hielt sie noch immer ihre Mordscheren fest, mit denen sie so viel Blut vergossen hatte. Solange sie sich noch in ihrem Besitz befanden, hatte ich schlechte Karten, denn es würde schwierig werden, die Nonne zu entwaffnen.
Stoppen konnte ich sie vielleicht mit einer Kugel. Auch das würde mir schwerfallen, deshalb versuchte ich es mit Worten. Es war so etwas wie ein letzter Versuch.
»Bitte, Clarissa, leg deine Waffen ab. Es ist für uns beide besser. Du willst doch leben und…«
»Jaaa!« schrie sie mich an. »Ich will leben! Aber ich will anders leben! Ich will den Druck nicht mehr spüren. Ich möchte wieder in Ruhe schlafen können.«
»Das kannst du, wenn du…«
»Nein, das kann ich nicht!«
Es wurde ernst. Ich musste an sie heran und sprang auf den Altar.
Der nächste Sprung sollte mich in ihre Nähe bringen, trotz ihrer mörderischen Waffen.
Sie war schneller!
Mir blieb das Wort »Nicht!« im Hals stecken. Auch wenn ich Flügel gehabt hätte, ich wäre nicht schnell genug gewesen.
Clarissa beherrschte ihre verdammten Scheren perfekt. Sie drehte sie gekonnt so, dass die Spitzen auf ihren Körper zeigten.
Als ich mit den Füßen den Altar berührte, stieß sie zu. Was sie zuvor bei ihren Opfern getan hatte, das tat sie sich jetzt selbst an. Beide Scheren rammte sie in ihren Körper, und ich musste dieses schreckliche Bild mit ansehen.
Plötzlich war überall Blut. Es quoll aus den Wunden und sickerte ihn ihre Kleidung. Eine Schere hatte sie sich in den Hals gestoßen.
Eine Chance, die Verletzungen zu überleben, hatte sie nicht. Als ich die Zusammenbrechende auffing, fiel mein Blick in die Augen, aus denen jeglicher Glanz verschwunden
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