1482 - Clarissas Sündenfall
großen Gefühle mehr, alles so nüchtern wie möglich ansehen.
Es passierte etwas auf dem Flur, an dem die Gästezimmer lagen.
Sie hörte Geräusche und Stimmen. Dann wurde es wieder still.
Clarissa traute dem Frieden nicht. Da war etwas nicht in Ordnung, das war ihr klar. Sie sah die Geistwesen nicht. Nur spürte sie, dass sie sich wieder in der Nähe aufhielten. Sie waren in ihrem Kopf, und sie fasste es als Störung auf.
»Ja, ja, ich gehe schon. Ich werde euch nicht enttäuschen. Ihr sollt eure ewige Ruhe bekommen.«
Nach dem letzten Gedanken setzte sie ihren rechten Fuß vor. Ihr Ziel war der Flur, in den sie zuerst einen kurzen Blick werfen wollte.
Sie sah nichts – oder?
Ihr war etwas aufgefallen, und das wollte sie jetzt genauer wissen.
Der nächste Blick dauerte länger. Sie sah die Gestalt, die auf dem Boden der linken Gangseite hockte und ihren Rücken gegen die Mauer drückte.
Es war eine Frau mit blonden Haaren, die durch die dunkle Lederkleidung besonders hell leuchteten.
Clarissa schürzte die Lippen. Perfekter konnte es kaum laufen. Das Schicksal hatte ihr wieder ein Opfer in die Hände gespielt. Darüber hätte sie sogar jubeln können.
Auf ihrem Gesicht lag wieder das Lächeln. Es war kalt, es war böse.
Ihre Arme mit den beiden Mordwaffen hingen an den Seiten hinab. Sehr bald würde sie ihr nächstes Opfer getötet haben, dann war wieder ein Teil ihrer Sühne gelöscht worden. Der Gedanke daran ließ schon jetzt ihre Augen glänzen.
Clarissa betrat den Flur.
Die Blonde hatte genug mit sich selbst zu tun. Sie hatte die Knie angezogen, hielt den Kopf gesenkt und starrte auf ihre Oberschenkel. Nur hin und wieder gab sie ein leises Stöhnen von sich. Ein Zeichen, dass sie litt.
Clarissa glaubte, auch diesmal ein leichtes Spiel zu haben, und sie ging schneller.
Vielleicht zu schnell, denn nach einem leisen Geräusch beim Auftreten zuckte die Blonde zusammen. Sie tat nicht viel, aber sie hob den Kopf an und blickte auf die gegenüberliegende Wand.
Da war nichts.
Clarissa lief schneller. Sie nahm keine Rücksicht mehr darauf, ob sie gehört wurde, und als die Blonde den Kopf drehte, da tat sie den letzten entscheidenden Schritt.
Plötzlich stand sie vor der Frau!
Die Blonde erstarrte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, auch der Mund.
Clarissas Arme hingen nicht mehr an beiden Seiten hinab. Sie hatte sie angehoben und die schweren Gartenscheren zeigten auf die Blonde.
Ginny starrte die Nonne an. Sie sah alles. Es war so verdammt schrecklich, und sie konnte es nicht glauben. Ihr Gesicht verlor seine Starre, die Züge schienen zu zerfließen, und aus ihrer Kehle stieg ein kratzendes Röcheln.
Clarissa beugte sich zu ihr hinab.
»Und jetzt wirst du sterben!« versprach sie flüsternd. Sie musste einfach reden und sprach auch weiter. »Denn ich will endlich meine verdammte Schuld loswerden.«
Es war, als hätten diese Worte bei Ginny ein Ventil geöffnet. Sie schrie ihr Entsetzen hinaus…
***
Ich schaute die Oberin aus großen Augen an. Auch Jane wollte nicht so recht glauben, was sie da gehört hatte, und sie schüttelte mehrmals ihren Kopf.
»Ist das wahr?« flüsterte sie.
Angela nickte.
»Das kann ich nicht glauben. Das ist der reine Wahnsinn. So etwas tut man nicht als Nonne.«
»Clarissa hat eben eine zu große Schuld auf sich geladen«, erklärte die Oberin mit leiser Stimme. »Die andere Seite will, dass die Schuld abgetragen wird. Dabei hat sie es nur gut gemeint, wie sie sagte. Die alten Menschen wollten nicht mehr leben, und sie hatte auch keinen finanziellen Vorteil davon. Aber es ist ihr einfach zu viel geworden, und da hat sie es tun müssen.« Angela hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Ich hatte auch meine Probleme damit, aber es muss schlimm sein, wenn Seelen nicht ihre ewige Ruhe finden können.«
»Ich weiß es«, sagte ich.
»Das ist gut.«
»Nein, es ist nicht gut, Oberin. Es ist grausam und unbarmherzig. Clarissa muss für ihre Taten büßen, aber nicht so. Sie ist ein Mensch, und deshalb werden auch Menschen über sie richten. Das sollten auch Sie verstehen, Angela, und Clarissa nicht noch in ihrem Wahnsinn unterstützen. So haben auch Sie sich mitschuldig gemacht, weil sie ihre Taten deckten.«
Die Oberin gab keine Antwort. Sie senkte nur den Kopf. Sicherlich wusste sie, welchen Fehler sie begangen hatte.
»Wie viele Morde sind denn geschehen?« fragte Jane Collins mit rauer Stimme.
»Ich weiß von zwei Taten.«
»Der
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