1482 - Clarissas Sündenfall
anderes als Clarissa fassen.
Ich sah sie auch.
Sie fuhr jetzt leicht bergauf und musste sich hart in die Pedalen stemmen. Auf einem glatten Boden hätte sie keine Probleme gehabt, doch sie fuhr über eine feuchte Wiese.
Deshalb schaffte ich es auch, aufzuholen.
Die Nonne schaute sich nicht einmal um. Sie fuhr weiter. Sie hatte die kleine Anhöhe fast überwunden und trat noch einmal heftig in die Pedalen.
Dabei rutschte sie ab.
Plötzlich fing ihre Gestalt an zu schwanken. Sie war nicht mehr in der Lage, sich zu halten. Zwar hielt sie sich noch krampfhaft am Lenker fest, aber die Fliehkraft schleuderte sie nach links und riss auch das alte Fahrrad mit.
Beide fielen zu Boden.
Und ich holte auf.
Die Nonne war rasch wieder auf den Beinen. Sie ließ das Rad liegen und flüchtete zu Fuß weiter.
Ich sah auch ihr neues Ziel.
Es konnte nur die kleine Kirche sein. Ein anderes Versteck sah ich nicht.
Ihre Mordwaffen sah ich nicht mehr. Sie hatte sie unterwegs auch nicht von sich geworfen, demnach musste sie die Scheren noch bei sich tragen.
Die zurückgelegte Strecke hatte mich schon außer Atem gebracht.
Mit dem gleichen Problem kämpfte auch die Nonne. Besonders schnell lief sie nicht, und sie schwankte zudem bei jedem ihrer Schritte.
Ich lief so schnell ich konnte. Beim Luftholen spürte ich schon ein Stechen in der Lunge.
Clarissa erreichte die Eingangstür der Kirche. Für einen winzigen Augenblick blieb sie davor stehen, dann packte sie mit beiden Händen zu und riss die Tür auf.
Sie stolperte in die Kirche hinein. Ich rechnete sogar mit einem Trick. Wenn das Gotteshaus zwei Eingänge hatte, konnte sie sich leicht durch den zweiten aus dem Staub machen.
Ich erreichte die Tür. Es drängte mich, in die Kirche zu stürzen, aber ich blieb vorsichtig. Im Halbdunkel des Kirchenschiffs konnte sich die Nonne versteckt haben und aus dem Hinterhalt zustechen.
Deshalb betrat ich sie sehr vorsichtig. Das Prickeln blieb auf meinem Rücken.
Wo steckte sie?
Weder von der rechten noch von der linken Seite her wurde ich angegriffen. Es war und blieb alles normal.
In der Kirche war es still, sodass ich meinen eigenen Atem hörte.
In der Nähe tat sich nichts. So fiel mein Blick nach vorn und schweifte über die Bankreihen hinweg.
Es fiel genügend Licht durch die Seitenfenster, sodass ich den Altar sah. Er war nicht besonders groß, sehr schlicht. Er erinnerte mich an einen Tisch, auf den jemand eine weiße Decke gelegt hatte.
Ein feuchter Geruch umgab mich. In der Nähe standen Kübel, aus denen Pflanzen ragten.
Um den Altar zu erreichen, musste ich entweder rechts oder links an den Bankreihen vorbeigehen. Bisher hatte ich die Nonne nicht gesehen. Dass sie sich in der Kirche aufhielt, hörte ich allerdings. Sie hatte ihren Atem ebenso wenig unter Kontrolle wie ich.
Hinter dem Altar befand sich das größte Fenster. Es lief oben spitz zu, und die bunten Scheiben ließen genügend Licht durch, sodass ich Clarissa sehen konnte.
Sie musste geduckt an der anderen Seite entlang gekrochen sein, denn nun erhob sie sich hinter dem Altar und vor dem Fenster, sodass sie gut zu erkennen war.
Ihre Flucht hatte hier ihr Ende gefunden!
Sie richtete sich auf, und hob den Kopf so hoch wie möglich. Sie schaute dabei zur Decke, als gäbe es dort etwas, von dem sie eine Erlösung erhoffte.
Nur sehr langsam ging ich auf sie zu. Dabei hörte ich auf mein Gefühl. Ich sprach sie nicht an, denn es schien mir, als wollte sie mit sich allein bleiben.
Aus beiden Händen ragten die blutigen Gartenscheren hervor. Sie schien sich an den Waffen festzuklammern, und noch immer hatte sie keinen Blick für mich.
Ich blieb neben einem Harmonium stehen und wartete ab, was Clarissa vorhatte.
Sie schaute nicht auf mich. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, aber auch leicht in die Höhe.
Dann sprach sie. Obwohl sich außer mir niemand in der Kirche aufhielt, fing sie an zu reden. Sie sprach mit irgendwelchen Gestalten, die wohl nur für sie existent waren.
»Ich habe alles versucht, um meine Schuld zu sühnen. Ich habe euch den Gefallen getan. Ich will doch, dass ihr die ewige Ruhe findet. Ich will nicht, dass ihr weiterhin leidet. Es ist so grausam für euch, aber ich kann nicht mehr. Bitte, verzeiht mir…«
Sie sprach nicht mit mir, sondern mir irgendwelchen Geistwesen.
Ich blickte in die Höhe, aber dort sah ich keine Bewegungen.
Ob Clarissa eine Antwort erhielt, wusste ich nicht. Ich wollte auch nicht untätig bleiben und setzte
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