1491 - Im Schloss der Hexen
recht lässig mit einem Stoffgürtel zusammengehalten wurde. Sie hatte bräunliches Haar. Durch das Weinen hatte sich das Gesicht verändert. Es wirkte geschwollen, und auch die Augen waren dicker als gewöhnlich.
»Haben Sie schon der Aufsicht Bescheid gesagt?« erkundigte sich Harry Stahl, nachdem er seinen Namen gesagt hatte.
»Nein, das habe ich nicht.«
»Sie sollten es tun.«
Dagmar mischte sich ein. »Bitte, Harry, hör dir erst mal an, was Frau Jäger zu sagen hat. Dann können wir gemeinsam überlegen, wie wir die Dinge wieder richten.«
Harry lächelte innerlich. So zu reden, das war typisch Dagmar. Sie gehörte zu den Menschen, die stets hilfsbereit waren und die Sorgen anderer zu den ihren machte.
»Es hört sich an, als wäre Ihre Tochter nicht einfach so weggelaufen, sondern auch mir Ihrem Einverständnis.«
»Das ist wohl wahr.«
»Und warum? Ich will Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Jäger, aber auf einem so überfüllten Markt kann immer etwas passieren. Es sind ja nicht nur nette Menschen unterwegs, und dabei denke ich nicht an irgendwelche Taschendiebe.«
»Ich weiß.« Frau Jäger zog die Nase hoch. »Ich muss mir selbst die Schuld geben, weil ich sie habe laufen lassen. Sie wollte sich allein etwas anschauen und zu einem Hexenhaus gehen.«
»Hexenhaus?«
»Ja. Es gibt hier ein Hexenhaus.«
Jetzt war Dagmar aufmerksam geworden. »Können Sie uns die Funktion genauer erklären?«
»Nein, Frau Hansen, das kann ich nicht. Es ist ein Hexenhaus. Dort kann man durch ein kleines Fenster in der Tür mit einer Märchenhexe sprechen. Ob sie nett oder böse ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls sollen dort irgendwie Märchen wahr werden.«
»Und wie?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich gehe mal davon aus, dass man den jungen Besuchern Märchen erzählt.« Sie lächelte. »Das kommt ja immer mehr in Mode.«
»Da haben Sie recht.« Dagmar nickte. »Und warum machen Sie sich so große Sorgen um Ihre Tochter?«
»Weil Julia nicht zurückgekehrt ist. Sie muss woanders sein. Ich war am Hexenhaus. Es ist verschlossen. Es sieht leer aus. Dort scheint es keine Märchenhexe zu geben. Julia hätte demnach zu mir zurückkommen müssen. Das ist sie aber nicht. Sie ist und bleibt verschwunden. Ich habe große Angst um mein Kind. Das können Sie mir glauben.«
Dagmar nickte ihr zu. »Ja«, murmelte sie nach einer Weile, »das hätte ich auch.« Sie warf Harry einen fragenden Blick zu. Eine Frage brauchte sie nicht zu stellen.
»Ja, ja«, sagte Stahl, »wir werden es versuchen. Wir schauen uns das Haus mal aus der Nähe an.«
Marion Jäger fiel ein Stein vom Herzen. »Wollen Sie das wirklich tun?«
»Natürlich.« Harry Stahl stellte sofort danach die nächste Frage.
»Wohin müssen wir gehen?«
»Ach, das ist nicht weit. Praktisch zweimal um die Ecke. Um dieses Hexenhaus herum herrscht zu Glück nicht so viel Betrieb. Das konnte ich sehen.«
»Gut, dann lassen Sie uns mal hingehen.«
Frau Jäger schaute Harry noch mal dankbar in die Augen, bevor sie sich nach rechts drehte, losging und die Führung übernahm. Sie schaute dabei zu Boden. Dagmar Hansen hielt sich an ihrer rechten Seite. Manchmal sprachen die beiden Frauen miteinander, aber Harry hörte nicht, über was sie redeten.
Er machte sich seine eigenen Gedanken. Das Wort Hexe hatte ihn aufmerksam werden lassen. Er wollte nicht den Teufel an die Wand malen, aber er verspürte schon einen Druck in der Magengegend.
Hexen sind Märchenfiguren, das sagt man so leicht dahin, aber Harry hatte leider schon andere Dinge erleben müssen, und deshalb sah er die Dinge aus zwei verschiedenen Blickwinkeln. Eine Märchenhexe hatte normalerweise nichts mit einer gefährlichen Magie zu tun, aber man konnte nie wissen, was sich tatsächlich im Hintergrund zusammenbraute. Es gab nicht nur die Hexen aus der Märchenwelt, die mit den krummen Nasen und den Buckeln, nein, oft genug hatten sich moderne Frauen zu Hexenclubs zusammengeschlossen und gingen recht eigenartige Wege. Nicht immer schlimm, aber wie alles auf der Welt gab es auch hier zwei Seiten, und die durfte man nicht aus den Augen lassen.
Es gab hier auf dem Markt zwischen all den zahlreichen Ständen und Buden keinen ruhigen Ort, auch nicht an seinen Rändern. Denn er befand sich auf einem zentralen Platz in der City, der von Häusern umgeben war.
Das Hexenhaus stand trotzdem an einer Stelle, wo der Trubel etwas abflachte. In der Nähe standen Fahrzeuge mit Transformatoren, die Energie
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