1491 - Im Schloss der Hexen
Mutter!« Sie stampfte bei jedem Satz mit dem Fuß auf. »Das bist du nicht, verdammt noch mal!«
Das Lachen stoppte sie. Es klang so hässlich und gemein. Allmählich wurde dem Kind klar, dass es in der Falle steckte. Es sollte nicht mehr zu seiner Mutter zurück.
Die Hexe will mich mitnehmen!, so schoss es ihr durch den Kopf.
Ich soll nicht mehr nach Hause!
In ihrer Panik wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte. Das Leben schien aus ihrem Körper zu weichen. Sie fühlte sich nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie eine Puppe, mit der man machen konnte, was man wollte.
Radmilla beugte sich vor. Beide Arme hielt sie ausgestreckt. Die Hände waren zu Krallen gekrümmt. Die Fingernägel kamen dem Kind vor wie Messerspitzen.
»Ich werde dich mit mir auf mein Schloss nehmen. Dort wirst du mir gehören. Da sammle ich die Kinder. Ein Hexenschloss voller Kinder, die später zu kleinen Hexen werden. Nur Mädchen, verstehst du? Nur kleine Hexen…«
»Nein, nein! Das will ich nicht! Ich will hier bei meiner Mutti bleiben! Ich will nicht weg…«
»Ich bin jetzt deine Mutter! Deine neue Mutter! Und sie wird ganz anders sein als die alte.«
Zwei Hände schnappten zu. Sie pressten die Arme des Mädchens fest gegen den Körper.
Julia wehrte sich nicht. Sie versteifte. Ein Panzer aus Eis schien ihren Körper umschlossen zu haben, der alles Leben erkalten ließ.
Julia wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Ihr Denken war ausgeschaltet. Sie schaffte es nicht mal mehr zu weinen. Sie zuckte nur in diesem harten Griff. Dann wurde sie herumgedreht, wobei Radmillas linke Hand sie losließ, nach dem auf dem Tisch liegenden Messer griff und es an sich riss.
Radmilla lachte hässlich. Dann sagte sie: »Du hast doch das geschlossene Fenster gesehen. Es ist gar nicht verschlossen. Es ist ein Weg, ein besonderer, denn er führt bis zu meinem Schloss. Hast du gehört? Bis zu meinem Schloss!«
Ja, Julia hatte es gehört. Nur war sie nicht mehr in der Lage, dies alles zu verarbeiten. Man hatte sie aus ihrem so wunderschönen Leben gerissen, und jetzt kam eine Hexe, um sie in ihr Schloss zu schleppen, wo sie für immer verschwinden sollte.
Es war so grausam und nicht zu fassen. Sie ging langsam an der breiten Seite des Tisches vorbei. Sekunden später lag er hinter ihr, und sie musste einfach nach vorn schauen, wo sich das Fenster in der Wand abzeichnete.
Durch dieses Fenster sollte man zu Radmillas Schloss gelangen?
Es war für Julia nicht zu begreifen. Aber sie sah, dass das Fenster groß genug war, um sie hindurchzulassen, und sie hörte hinter sich die gezischelten Worte der Hexe.
Verstehen konnte sie nichts. Dafür sah sie, dass sich im Fenster etwas tat.
Es öffnete sich!
Nur tat es das auf seine Art und Weise. Da wurde nichts nach innen gedrückt oder nach außen gezogen. Innerhalb des Rahmens erschien plötzlich eine Szene, ein Bild. Julia vergaß ihr eigenes Schicksal, als sie das sah. Es war eine breite Treppe, die hinauf zu einer großen Tür führte.
»Das ist mein Hexenschloss«, flüsterte Radmilla scharf. »Dort wohne ich wirklich, und auch du wirst dort wohnen, meine Liebe. Das kann ich dir versprechen.«
Julia konnte keine Antwort mehr geben. Ihr Hals saß zu. Alles war eingeklemmt. Sie spürte den harten Druck der Hexenhand an ihrer eigenen. Frei kam sie nicht. Sie musste den Weg gehen, ob sie es nun wollte oder nicht.
Ein kalter Lufthauch wehte den beiden entgegen. Das Fenster war kein Hindernis. Im Gegenteil, es hatte den Weg freigegeben, den sie jetzt nahmen. Weg aus der normalen Welt und hinein in die neue, wo das Schloss der Hexen wartete…
***
»Wer, bitte schön, ist eigentlich auf die Idee gekommen, dem Nürnberger Weihnachtsmarkt einen Besuch abzustatten?« fragte die rothaarige Dagmar Hansen ihre Freund Harry Stahl.
»Ich war es nicht. Außerdem heißt das hier Christkindlmarkt.«
»Ist egal. Wer hatte die Idee?« Harry blieb stehen, und Dagmar hielt auch an. Sie bildeten schon ein Hindernis für die Massen an Menschen, die sich durch die engen Gassen schoben, zwar die Stände sahen, aber kaum erkennen konnten, was dort angeboten wurde.
»Keiner will zugeben, dass er sie hatte«, sagte Harry.
»Genau.«
»Dann hatten wir sie eben beide gemeinsam.«
»Toll.«
Harry grinste. »Und nun müssen wir auch gemeinsam das Schicksal hier tragen.«
»Du sagst es.«
Harry schüttelte den Kopf. »Ungern«, sagte er. »Nur ungern gebe ich zu, dass ich es zur Hälfte gewesen sein soll.« Er
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