1499 - Rattenwelt
hätte diese Clara dort wollen?« fragte Jane.
»Falls sie hingegangen ist«, schränkte Edwin Proctor ein.
Wir standen auf dem Fleck und waren ziemlich ratlos. Was hier ablief, gefiel mir nicht. Bisher hatte unser Besuch auf dem Friedhof nichts ergeben, und mir kam wieder der Gedanke, dieser Clara Seymour einen Besuch abzustatten.
»Ich denke, wir sollten uns die Frau mit den langen schwarzen Haaren mal genauer ansehen.«
Jane hob die Schultern. »Nichts dagegen. Ich bin sogar gespannt darauf, was sie für Ausreden hat, was den Besuch hier auf dem Friedhof angeht.«
»Dann kommt.«
Es schneite noch immer nicht. Wenn ich aber einen Blick zu den Wolken hinauf warf, dann kamen sie mir sehr bedrohlich vor, als würden sie bald auf unseren Köpfen landen.
Ich hatte diesmal die Führung übernommen. Wir schritten durch eine graue Welt, die mir wie verhangen vorkam. Da war nichts Freundliches mehr zu sehen, und die Stille auf dem Gelände kam mir schwer und bedrückend vor. Man konnte sagen, dass etwas in der Luft lag und nur darauf wartete, explodieren zu können.
Wir waren erst ein paar Meter gegangen, als ich wie angewurzelt stehen blieb.
Ich hatte etwas gesehen!
Mein Blick fiel auf ein Grab. Es war mit einem viereckigen, recht hohen Grabstein bestückt, und oben auf der breiten Kante hockten die beiden fetten Ratten wie stille Beobachter…
***
Es ging also los!
Ich spürte plötzlich einen verdammt schlechten Geschmack im Mund. Dabei hatte ich den Eindruck, dass sich die Welt um mich herum drehen würde. Ich hatte ja die Ratten erwartet, aber ich hatte mich zugleich mit dem Gedanken abgefunden, dass sie den Friedhof hier verschont hatten. Das war aber sichtlich nicht der Fall. Sie waren doch da!
»Scheiße!« hörte ich Proctor flüstern. »Damit habe ich nicht mehr gerechnet.«
»Bleiben Sie ruhig«, riet ihm Jane Collins.
»Ha, ich habe immer noch den toten Miller vor Augen. Da kann ich nicht ruhig bleiben.«
»Reißen Sie sich trotzdem zusammen.«
»Ich werde mich bemühen.«
Klar, dass Proctor nervös war. Mir an seiner Stelle wäre es nicht anders ergangen.
Ich drehte mich kurz um und bat die beiden, nichts zu tun, nur abzuwarten.
»Und was machen Sie?« flüsterte der Constabler.
»Ich schaue sie mir aus der Nähe an.«
»O Gott – na ja, das ist Ihr Problem. Ich denke anders darüber. Aber egal.«
Jane sagte noch etwas zu ihm, was ich nicht verstand. Dafür schritt ich auf die beiden Ratten zu. Sie saßen so, dass sie mich anstarren konnten. Ich sah die kleinen Augen und entdeckte auch das Funkeln darin. Das waren schon bösartige Blicke.
Sie störten mich nicht. Ich holte auch nicht meine Pistole hervor, denn ich dachte daran, was auf der Herfahrt passiert war, als sie mich angesprungen hatten.
Das Risiko, dass dies erneut passieren würde, ging ich ganz bewusst ein. Und so ging ich ihnen entgegen, hatte aber das Gefühl, den Druck meines Kreuzes noch deutlicher zu spüren. Und genau darauf setzte ich.
Die Höhe des Grabsteins passte perfekt. Wenn sich die Ratten abstießen, würden sie gegen meine Brust prallen und das Kreuz berühren, obwohl es unter der Kleidung verborgen war.
Noch hatten sie sich nicht bewegt. Sie hockten starr in Lauerstellung auf dem Grabstein. Die Mäuler waren nicht geschlossen, und so sah ich das Schimmern ihrer Zähne.
Wann sprangen sie?
Zumindest bewegten sie sich nun. Sie richteten ihre Körper auf und produzierten so etwas wie Buckel, als hätten sie sich in kleine Katzen verwandelt.
Ich wartete noch immer ab und war jetzt ebenso starr wie sie. So belauerten wir uns gegenseitig. Aber ich hatte keine Lust, hier noch länger zu warten, ich wollte sie endlich aus der Reserve locken, und deshalb bewegte ich meinen Arm recht hektisch.
Das war genau richtig.
Beide stießen sich gleichzeitig vom Grabstein ab und sprangen mich an…
***
Ich blieb dabei seelenruhig stehen und hörte im Hintergrund den leisen und entsetzt klingenden Schrei des Constablers.
Zwei Rattenkörper prallten gegen meine Brust, und ich spürte in diesen Augenblicken, welch ein Gewicht sie hatten. Das war wie ein doppelter Hammerschlag, der mich ein wenig nach hinten trieb.
Krallen hakten sich fest. Die Tiere wollten ebenfalls ihre Zähne in meine Kleidung schlagen, doch dazu kam es nicht mehr. Ich hatte auf mein Kreuz vertraut und wurde nicht enttäuscht.
Die Ratten hatten kaum den richtigen Halt gefunden, als es bereits passierte. Plötzlich glühten ihre Körper von innen her
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