15 Gruselstories
stellte mir vor, wie vertieft er in seine Arbeit war.
Aber nichts dergleichen. Mr. Steinway schwieg, und die Verbindungstür war geschlossen. Dafür wurde ich gleich im Vorraum überrascht.
Leo war wieder tot.
Er lag auf der riesigen Couch. Seine Blässe schimmerte durch das Dämmerlicht. Seine Augen waren geschlossen, seine Ohren waren geschlossen, und auch sein Herz schien verschlossen zu sein, bis ich mich über ihn beugte und meine warmen Lippen auf seinen kalten Mund preßte.
»Dorothy!«
»Spielst du wieder Dornröschen?« fragte ich lächelnd und fuhr ihm mit der Hand durch die Haare. »Was ist, Liebling? Hat dich das Üben ermüdet? Ich kann dir keinen Vorwurf machen, besonders, wenn man bedenkt –«
Es war im Zimmer noch nicht so dunkel, daß mir sein Stirnrunzeln entgehen konnte.
»Habe ich dich – erschreckt?« Dieser Satz konnte aus dem Drehbuch zu einem Kitschfilm stammen; aber die ganze Situation hatte mit einer Schnulze Ähnlichkeit. Der berühmte, begabte junge Pianist, der zwischen Liebe und Karriere hin- und hergerissen wurde, der von einem jungen Ding in seinem Streben nach künstlerischer Vollendung abgelenkt wurde … Er runzelte die Stirn, erhob sich und legte seine Hände auf meine Schultern. Die Kamera fuhr dicht heran, und er sagte in Großaufnahme:
»Dorothy, ich muß mit dir reden.« Aha, dachte ich, also hatte ich recht. Jetzt mußte es kommen; die berühmte Ansprache, daß die Kunst an erster Stelle steht, daß sich Arbeit und Liebe nicht vertragen – und daß daran auch die vergangene Nacht nichts geändert hätte. Ich schob die Unterlippe vor. Unter gewissen Umständen kann ich einen recht hübschen Schmollmund machen. Aber ich schwieg und war auf das vorbereitet, was er sagen würde.
Er sagte: »Was weißt du über die Sonnenwissenschaft, Dorothy?«
Ich riß die Augen auf und stotterte verdutzt: »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«
»Das ist auch kein Wunder. Denn dieser Zweig der Psychologie hat sich bis heute noch nicht richtig durchgesetzt. Aber man sollte ihn nicht unterschätzen. Denn wenn man sich erst einmal mit dieser Materie beschäftigt, kann man sich den logischen Schlußfolgerungen nicht entziehen. Aber ich glaube, ich sollte dir das Ganze von Anfang an genau erklären, damit du es verstehst.«
Und er erklärte mir es genau. Ich bemühte mich ernsthaft, ihn zu verstehen. Aber nachdem er wohl eine Stunde lang geredet haben mochte, hatte ich im Endeffekt recht wenig begriffen.
Auf alle Fälle schien sich schon seine Mutter lebhaft für die Sonnenwissenschaft interessiert zu haben. Und um mit dieser Wissenschaft vertraut zu werden, mußte man offensichtlich in eine Art Meditation versinken, die mit gewissen Yoga-Übungen Ähnlichkeit hatte. Seine Mutter hatte ein Jahr vor ihrem Tode damit angefangen. Und nun experimentierte Leo seit vier Jahren alleine an dieser Geschichte herum. Man konnte dem Kernpunkt dieser Lehre nur im Trancezustand näherkommen. Der Erfolg hing von der eigenen Konzentration ab. Aber wenn ich Leo recht verstanden habe, müßte es eine mühelose, schwerelose Konzentration sein, die dem Innern entspringt und nach und nach ein ›absolutes Selbstbewußtsein‹ schafft.
Nach dieser Sonnenwissenschaft sollte es möglich sein, daß man sich seines eigenen Körpers so bewußt wird, daß man sich mit den Organen, den Zellen, dem Blut, den Knochen und Sehnen direkt in Verbindung setzen kann. Denn alles, bis hinunter zu den kleinsten Molekülen, besitzt eine eigene Schwingungsfrequenz und ist somit lebendig.
Leo widmete sich vier Stunden am Tag Mr. Steinway und beschäftigte sich mindestens zwei weitere Stunden mit der Sonnenwissenschaft und dem ›absoluten
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