15 Gruselstories
Selbstbewußtsein‹. Dieses System hätte bei ihm schon Wunder gewirkt, was sich auch bei seinem Spielen bemerkbar machen würde. Denn Entspannung, Erneuerung und Ruhe wäre der Weisheit letzter Schluß. Aber darüber würde er mir ein anderes Mal erzählen.
Und wie ich darüber dächte?
Offengestanden hatte ich überhaupt noch nicht darüber nachgedacht. Ich hatte wie jeder andere zwar schon von Telepathie, übernatürlichen Sinneswahrnehmungen und dergleichen gehört, aber mich herzlich wenig dafür interessiert. Ich habe diese Dinge immer mit den Witzblattzeichnungen von gewissen Psychiatern, Scharlatanen und alten Frauen, die in Glaskugeln starren, in Verbindung gebracht.
Es war etwas ganz anderes, Leo darüber sprechen zu hören, die Kraft seiner Überzeugung zu spüren. Er war felsenfest davon überzeugt, daß diese Meditation das einzige war, was ihn seit dem Tode seiner Mutter am Leben erhalten hatte.
Natürlich sagte ich ihm, daß ich alles verstehen und ihm niemals in diese Dinge dreinreden würde und daß ich nichts weiter wolle, als immer dann für ihn da zu sein, wenn er mich brauche. Zu diesem Zeitpunkt war ich von meinen eigenen Worten sehr überzeugt.
Ich war auch dann noch überzeugt, als ich ihn in den Tagen vor dem Bostoner Konzert immer nur etwa eine Stunde täglich sah.
Dann flog ich nach Boston, um das Konzert zu hören. Leo war hinreißend. Wir fuhren zusammen zurück. Und es gab keine Sonnenwissenschaft und keinen Mr. Steinway. Es gab nichts – außer uns beiden.
Bis zum Sonntag. Dann waren wir zu dritt. Mr. Steinway kam zurück.
Ich verzog mich in meine eigene Wohnung, aber nach dem Mittagessen eilte ich zu ihm zurück. Der Central Park schimmerte im Sonnenlicht, und der Glanz fand in meinem Herzen einen Widerhall. Das änderte sich schlagartig, als ich seine Wohnung betrat. Ich hörte, wie Mr. Steinway ächzte und knurrte und grollte und stöhnte. Ich raste zu Leo, und Mr. Steinway verstummte.
Leo runzelte die Stirn. Ich schien ein besonderes Talent zu entwickeln, immer im ungeeignetsten Moment zu erscheinen.
»Ich hatte dich jetzt noch nicht erwartet«, sagte Leo verstimmt, »ich war gerade dabei, etwas Neues zu entwickeln.«
»Das habe ich gehört. Was soll es werden, wenn es fertig ist?«
»Das ist im Augenblick unwichtig. Wolltest du heute nachmittag ausgehen?« Er sagte es in einem Tonfall, als würde er mein neues Kleid und meine neuen Schuhe, die ich mir gekauft hatte, um ihn zu überraschen, gar nicht bemerken. »Nein. Aber glaub mir, ich wollte nicht stören. Spiel nur weiter.«
Leo schüttelte den Kopf. Er starrte auf Mr. Steinway.
»Stört es dich, wenn ich bei deinen Proben dabei bin?«
Leo schaute nicht auf.
»Ich kann ja gehen«, murmelte ich. »Bitte versteh mich recht«, sagte er. »Es liegt nicht an mir – aber ich glaube, daß sich Mr. Steinway noch nicht so richtig an dich gewöhnt hat.«
Ich holte tief Luft. Das hätte nicht kommen dürfen. Das war zuviel. »Moment mal«, sagte ich kühl, soweit eine Explosion kühl sein kann, »was ist nun wieder los? Hat das etwas mit deiner Sonnenwissenschaft zu tun? Soll ich daraus schließen, daß du in Mr. Steinway ein lebendiges Wesen siehst? Ich gebe zu, daß ich nicht übermäßig klug bin und einigen deiner Gefühlsregungen nicht unbedingt folgen kann. Vielleicht ist es mir deshalb bis jetzt entgangen, daß Mr. Steinway eine eigene Persönlichkeit besitzt. Ich habe ihn eigentlich doch immer mehr oder weniger für einen Flügel gehalten. Nach deinen Worten müßte ich anfangen, seine Pedale mit meinen Beinen zu vergleichen.«
»Dorothy, bitte. …«
»Nichts ›Dorothy, bitte‹! Aber keine Bange: Dorothy wird in Gegenwart deines personifizierten Alptraums, oder was immer
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