15 Gruselstories
richtig. Ich erwiderte seinen Blick. Während Harry wortreich erklärte, daß wir zufällig vorbeigekommen wären und gar nicht die Absicht gehabt hätten, ihn zu stören, aber doch hereingekommen wären, weil die Tür offenstand, schaute ich ihn unverwandt an. Und Harry redete pausenlos weiter. Daß er Leo daran erinnern wollte, den Flügel morgen rechtzeitig zum Konzertsaal schaffen zu lassen und daß, nach den letzten Berichten, der Kartenvorverkauf sehr erfolgreich wäre. Und jetzt müßte er, Harry, sich darum kümmern, daß die Ankündigungen für das morgige Konzert in den Zeitungen auch richtig placiert würden, also –
»Schön. Aber für Sie, Miss Endicott, besteht doch kein Grund zur Eile, nicht wahr?«
Ich mußte zugeben, daß für mich absolut kein Grund zur Eile bestand.
Als Harry abschwirrte, zwinkerte er mir unmerklich zu. Ich blieb und unterhielt mich mit Leo Winston.
Ich habe keine Ahnung mehr, über was wir uns unterhalten haben. Ich glaube, daß nur Romanfiguren in der Lage sind, auch die längsten Unterhaltungen wörtlich wiederzugeben. Und für meine Begriffe ist es ein Wunder, daß diesen Personen dabei nicht der kleinste grammatikalische Fehler unterläuft.
Aber irgendwie erfuhr ich aus diesem Gespräch, daß er eigentlich Leo Weinstein hieß … daß er einunddreißig Jahre alt war … daß er ledig war … daß er Siamkatzen liebte … daß er sich beim Skilaufen einmal das Bein gebrochen hatte … und daß er einen sehr trockenen Manhattan-Cocktail mochte.
Nachdem ich ihm alles von mir erzählt hatte, oder zumindest fast alles – aber ich bin sicher, daß er den Rest in meinen Augen gelesen hat –, fragte er mich, ob ich Mr. Steinway kennenlernen wolle. Natürlich wollte ich das. Leo Winston öffnete die Schiebetür zu einem anderen Zimmer.
Mr. Steinway beherrschte diesen Raum. Er war schwarz und auf Hochglanz poliert, und er lächelte mir mit seinen achtundachtzig Zähnen entgegen und hieß mich willkommen.
»Möchten Sie, daß Mr. Steinway etwas für Sie spielt?« fragte Leo. Ich nickte. Die Wärme, die mich durchströmte, hatte nichts mit den zwei Manhattan, die ich getrunken hatte, zu tun. Sie war durch die Formulierung seiner Frage in mir entstanden. Nur einmal in meinem Leben hatte ich ein ähnliches Gefühl gehabt. Damals war ich dreizehn, und Bill Prentice – in den ich verschossen war – hatte mich gefragt, ob ich zusehen wolle, wenn er mit einem Kopfsprung vom Fünfmeterturm ins Wasser springt.
Leo nahm Platz und tätschelte Mr. Steinways Pedal so, wie ich manchmal meine Katze Angkor tätschele. Und sie spielten für mich. Sie spielten ›Appassionata‹ aus dem ›Feuervogel‹ und etwas fremdartig Anmutendes von Prokofieff und danach ein paar Sachen von den beiden Schotten Cyril und Raymond. Ich glaube, daß Leo seine Vielseitigkeit demonstrieren wollte; aber vielleicht war es auch Mr. Steinways Idee. Wie dem auch sei, mir gefiel alles. Und ich drückte es voller Begeisterung aus.
»Ich bin sehr glücklich, daß Sie Mr. Steinway schätzen«, sagte Leo. »Er ist, wie jeder in meiner Familie, sehr sensibel. Und er ist ein Mitglied meiner Familie. Er gehört seit fast elf Jahren zu mir. Meine Mutter hat ihn mir geschenkt, als ich meinen ersten Konzertabend in der Carnegie Hall hatte .«
Leo stand auf. Er war mir sehr nahe, denn ich hatte seit der ›Appassionata‹ neben ihm gesessen. Deshalb konnte ich auch so genau seine Augen sehen, als er jetzt den schwarzen Deckel über Mr. Steinways Zähne klappte und sagte: »Ruhe dich ein wenig aus, bis sie kommen und dich holen.«
»Was ist los?« fragte ich. »Ist Mr. Steinway krank?«
»Keine Spur – er war selten so gut in Form.« Leo strahlte. Wie hatte ich ihn auch nur einen Augenblick lang für tot
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